Goethe und Hardheim

Der Kuss? Die Stühle? Goethe und Hardheim

Goethe
Stuhl

Die restaurierten „Goethe“-Stühle in der Ausstellung.

Aus Anlass des Goethe-Jahrs 1999 ließ das Erfatal-Museum drei Stühle restaurieren, die nach Erzählungen aus dem Umfeld des Dichters stammen sollten…

Die Maßnahme wurde seinerzeit durch den Hardheimer Club 64 großzügig unterstützt; zur Vorstellung der Stühle und zum Verhältnis der Erftal-Metropole zu Goethe hielt der Museumsleiter Peter Wanner ein ausführliches Referat.

Das Jahr 1999 war Goethe-Jahr. Landauf landab erinnerten Ausstellungen, Feierstunden, Fernseh- und Kinofilme, Lesungen, Theaterstücke, Bücher und Broschüren an den Dichter, der 250 Jahre zuvor – am 28. August 1749 – in Frankfurt am Main das Licht der Welt erblickt hatte.

Auch Hardheim mochte da nicht zurückstehen, ist die Beziehung des Dichters zu dem Ort im Erfatal doch eine doppelte: Zum ersten hielt sich Goethe hier 8. Oktober 1815 einige Stunden auf. Und die zweite steht seit einigen Jahren im Erfatal-Museum in Hardheim – drei Stühle, die aus der familiären Umgebung von Goethe stammen und die aus Anlass des Goethejahrs restauriert und mit einem neuen Polster im Stil der Zeit ihrer Entstehung versehen wurden.

Während der Restaurierung

Die Stühle stammen aus dem Haushalt der Frankfurter Familie Melber. Johanna Melber, geb. Textor, war die Schwester von Goethes Mutter Catharina Elisabeth. Sie bewohnte mit ihrem Mann, dem Geheimrat Georg Adolph Melber, ein Haus am Frankfurter Markt. Goethe hat sie in seinen Kinderjahren dort oft besucht.

Die umtriebige Geschäftigkeit im Melberschen Haushalt hat den jungen Goethe stark beeindruckt. Er berichtet in „Dichtung und Wahrheit“ von seinen Besuchen bei Melbers, „deren Wohnung und Laden mitten im lebhaftesten, gedrängtesten Teile der Stadt an dem Markte lag. Hier sahen wir nun das Gewühl und Gedränge, in welches wir uns scheuten zu verlieren, sehr vergnüglich aus den Fenstern zu.“ Besonders beeindruckt war er von der Geschäftigkeit und liebevollen Fürsorglichkeit seiner Tante, die ihn offensichtlich als Kind sehr gerne mochte und verwöhnte. Sie habe „früher Abgötterei mit mir getrieben“, erzählt er. „Auch in ihrem Hause war um sie her alles bewegt, lebenslustig und munter, und wir Kinder sind ihr manche frohe Stunde schuldig gewesen.“1

Die regelmäßigen Besuche dauerten bis 1756, Goethes siebtem Lebensjahr; dann kam es zu familiären Streitigkeiten wegen des preußisch-französischen Krieges. Goethe hat aber bis in seine Weimarer Zeit hinein freundliche Worte für seine Tante gefunden.

Stühle

Die „Goethe“-Stühle während der Restaurierung.

Bis zur Restaurierung der Stühle war man im Erfatal-Museum davon ausgegangen, dass sie um 1750 entstanden waren, Goethe selbst bei seinen Besuchen sie also benutzt haben könnte. Der sachverständige Restaurateur machte dieser Annahme leider ein Ende; die Stühle sind vier Jahrzehnte jünger und dem Stil directoire zuzuordnen, dem Stil der Jahre der Direktoriumsverfassung im revolutionären Frankreich zwischen der Einführung dieser Verfassung am 1. Vendémiaire (23. September 1795) und dem Staatsstreich durch Napoleon Bonaparte am 18. Brumaire (9. November 1799).

Damit sinkt zwar die Chance, dass Goethe selbst die Stühle „besessen“ – oder besser „bekniet“ hat, wie das Kinder tun. Er hat Frankfurt schon 1765 verlassen, zunächst zum Studium nach Leipzig, dann über weitere Stationen schließlich 1775 nach Weimar, wo er – unterbrochen durch Reisen und Kuraufenthalte – bis zu seinem Tod 1832 lebte. Es ist nicht überliefert, ob er bei einem seiner seltenen Besuche in Frankfurt auch seine Tante Melber noch einmal besucht hat.

Marie Josephine Henninger aus Hardheim

Den historischen Wert der Stühle mindert dies kaum, gerade wenn wir den Weg verfolgen, der die Stühle nach Hardheim geführt hat: 1814, ein Jahr vor Goethes Aufenthalt in Hardheim, wurde hier ein Mädchen geboren, das auf den Namen Marie Josephine Henninger getauft wurde. Sie ist das Bindeglied zwischen Hardheim und den Stühlen aus dem Umkreis von Goethe: Sie trat 1841 in den Dienst der Familie Melber.

Sie bleibt im Dienst der Familie, bis sie 1889 als 75-jährige stirbt. Mit ihrem Nachlass kommen auch die Stühle nach Hardheim – sie waren ein Geschenk der Familie Melber an ihre treue Dienstmagd.

Josephine Henninger wurde mehrfach geehrt für ihre Dienste – 1866 etwa dichtet der Enkel von Goethes Tante, Dr. med. Georg Melber, zu ihrem 25-jährigen Dienstjubiläum:

„Und daß du stets dir treu geblieben
Treu deinem Herrn, treu deinem Stand
Fest dauernd uns in’s Herz geschrieben
Nimm unsres Dankes warme Hand!“

Und der „Verein zum Wohl der dienenden Klasse“ verlieh ihr aus Anlass ihres Ausscheidens nach 44-jährigem ununterbrochenen Dienst bei der Familie Melber für Fleiß, Sittlichkeit und Treue eine Ehrengabe. Als Symbol dieser Tugenden prangt auf der dazugehörigen Urkunde ein Bienenkorb.

Schon 1851 hatte Josephine Henninger eine solche Ehrengabe erhalten, nachdem sie „10 ¾ Jahr ununterbrochen bei Frau Doctor Melber“ tätig war, „mit dem rühmlichen Zeugnisse der Treue, des Wohlverhaltens und der Sittlichkeit“. Sie bekam außerdem einen Geldpreis von 15 Gulden – aber keineswegs sofort ausbezahlt, nein, das Geld wurde „bei der Löblichen Sparkasse dahier angelegt“ mit der Bestimmung, „daß ihr dieser Preis nebst Zinsen nach fünf Jahren eigenthümlich überwiesen werden soll, wenn sie nach dieser Zeit vorteilhafte Zeugnisse ihres fortgesetzten Wohlverhaltens und sittlichen Betragens […] vorzulegen im Stande ist“ …

Goethe mit 68 Jahren

Goethe

Goethe 1817

Goethe und der Kuss von Hardheim

Doch wenden wir uns nun der zweiten Beziehung zwischen Hardheim und Goethe, Goethe und Hardheim zu: Dem Aufenthalt des Dichters in der „Erftal-Metropole“ am Sonntag, dem 8. Oktober 1815 – in dem Jahr, in dem Napoleon sein Exil auf der Insel Elba verließ, bei Cannes in Frankreich landete und mit einem Trupp von Anhängern und Soldaten nach Paris marschierte. Im Juni erlebte er dann seine sprichwörtlich gewordene Niederlage bei Waterloo, der Ex-Kaiser wurde auf die Insel St. Helena deportiert.

Goethe unternimmt in diesem Jahr zum zweiten Mal eine Reise in die „Rhein- und Maingegenden“, trifft Marianne von Willemer wieder, die letzte große Liebe seines Lebens, und flieht sie Anfang Oktober, wie er in seinem Leben oft geflohen ist, wenn der Boden zu heiß wurde, der Boden der Liebe.

Thomas Mann, ein anderer ganz Großer der deutschen Literatur, beschreibt in seinem Roman „Lotte in Weimar“ diese Reise – er legt dem Goethe des Jahres 1816 folgende Worte über Goethes Reisebegleiter Sulpiz Boisserée in den Mund:2

„Ein Zuhörer comme il faut, – wie war er angemutet von der Kürzesten Nacht und dem Liebesschnaufen Auroras nach Hesperus, da ichs ihm las zu Neckarelz auf der Reise im kalten Zimmer. Treffliche Seele! […] Schöne Straße von Neckarelz die Höhe hinauf durchs Kalkgebirge, wo wir Versteinerungen fanden und Ammonshörner. Oberschaflenz – Buchen – Wir aßen in Hardheim zu Mittag im Wirtsgarten. Da war eine junge Bedienerin, die es mir antat mit ihren verliebten Augen, und an der ich demonstrierte, wie Jugend und Eros aufkommen fürs Schöne, denn sie war unhübsch, aber erz-attraktiv und wurd es noch mehr vor schämig-spöttischer Erhöhtheit, da sie merkt, der Herr spräch von ihr, was sie ja merken sollt, und er merkte auch natürlich, daß ich nur sprach, damit sie merkte, ich spräche von ihr, hatt aber eine musterhafte Haltung in solcher Bewandtnis, weder geniert noch unfein – das ist katholische Kultur – und war von der heiter-günstigsten Gegenwart, als ich ihr den Kuß gab, den Kuß auf die Lippen.“

Nun sind wir schon mitten im Geschehen, beim Kuss von Hardheim, der doch einiges Aufsehen erregt hat in der Literaturgeschichte – Aufsehen vor allem deshalb, weil in der Überlieferung die Szene sehr viel fragwürdiger ist als das, was Thomas Mann hier daraus macht.

Es gibt nur eine Quelle für die hier geschilderten Ereignisse – das Tagebuch des schon erwähnten Sulpiz Boisserée.3

Sulpiz Boisserée – er lebte zusammen mit seinem Bruder in Heidelberg; die beiden aus Köln stammenden Kunstgelehrten und Kunstsammler hatten eine bedeutende Sammlung niederrheinischer Tafelbilder zusammengetragen, von denen sich auch Goethe tief beeindruckt gezeigt hat. Er war 1814 und 1815 bei ihnen in Heidelberg, in ihrem Palais am Karlsplatz, zu Gast – es beheimatet seit Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts sehr passend das Germanistische Seminar der Universität Heidelberg.

Boisserée beschreibt sein Zusammensein mit Goethe sehr ausführlich, mit vielen Abschweifungen; er gibt auch immer wieder den Inhalt der Gespräche mit dem Dichter wieder.

Von ihm wissen wir auch das meiste über die Liebe Goethes zu Marianne von Willemer: Die beiden hatten sich erstmals im August 1814 getroffen; Marianne war damals noch nicht verheiratet, lebte – 30-jährig – im Haus des Frankfurter Bankiers Johann Jakob Willemer. Kurz nach der Begegnung mit Goethe heiraten Marianne und Willemer, fast so, als hätten sie die Gefahr für ihre Beziehung erkannt.

Goethe arbeitet in diesen Monaten an seinem west-östlichen Diwan, und nachdem er einige Gedichte Marianne widmet, kommt es zu einem lyrischen Gedankenaustausch zwischen beiden, der von erotischen Anspielungen nur so sprüht – auch als Goethe über die Wintermonate nach Weimar zurückgekehrt ist:4

Daß Suleika von Jussuph entzückt war,
Ist keine Kunst;
Er war jung, Jugend hat Gunst,
Er war schön, sie sagen zum Entzücken,
Schön war sie, konnten einander beglücken.
Aber daß du, die so lange mir erharrt war,
Feurige Jugendblicke mir schickst,
Jetzt mich liebst, mich später beglückst,
Das sollen meine Lieder preisen,
Sollst mir ewig Suleika heißen.

Die Erwiderungen von Marianne von Willemer hat Goethe ebenfalls in seine Gedichtsammlung aufgenommen – ein in der Literaturgeschichte weithin einmaliger Fall. Zu diesen Erwiderungen gehören etwa folgende Zeilen:5

Suleika

Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide:
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich an der Trennung leide!

Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen;
Blumen, Augen, Wald und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Tränen.

Doch dein mildes, sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müßt ich vergehen,
Hofft ich nicht zu sehn ihn wieder.

Eile denn zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen;
Doch vermeid, ihn zu betrüben,
Und verbirg ihm meine Schmerzen.

Sag ihm, aber sag’s bescheiden:
Seine Liebe sei mein Leben;
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Nähe geben.

Anfang September 1815 wird die Situation prekär in dieser Dreier-Konstellation, und Goethe beginnt sich zurückzuziehen, wie dies in Goethes Leben – man denke nur an seine Liebe zu Charlotte Buff – nicht einzigartig war. Man trifft sich am 15. September auf der Gerbermühle, dem Wohnsitz der Familie Willemer; Goethe hatte an diesem Tag außerdem das wohl in Heidelberg entstandene Gedicht über das Blatt des Gingko-Baums an Marianne abgesandt:6

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn:
Fühlst du nicht in deinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?

Nach der Rückkehr nach Heidelberg kommen Willemers noch einmal in die Stadt, reisen aber am 26. September aus Heidelberg ab. Goethe dichtet:7

Deinem Blick mich zu bequemen,
Deinem Munde, deiner Brust,
Deine Stimme zu vernehmen,
War die letzt‘ und erste Lust.

Gestern, ach, war sie die letzte,
Dann erlosch mir Leucht‘ und Feuer,
Jeder Scherz, der mich ergetzte,
Wird nun schuldenschwer und teuer.

Eh es Allah nicht gefällt,
Uns aufs neue zu vereinen,
Gibt mir Sonne, Mond und Welt
Nur Gelegenheit zum Weinen.

Danach hält Goethe nichts mehr in Heidelberg:8

Freitag den 6. Morgens will Goethe plötzlich fort, er sagte mir: ich mache mein Testament. Wir bereden ihn mit großer Mühe, noch einen Tag auszuruhen, und übermorgen zu reisen. […]

Den 7. Regenwetter. Goethe ist früh morgens unruhig und fürchtet eine Krankheit, will schon zu Mittag fort. Ich biete mich ihm zur Beleitung an, und bereite mich vor, ihm bis Weimar zu folgen. Trauriger, schwerer Abschied.

Im Wagen erholt sich der Alte allmählich. […]

Abends in Neckarelz. Kaltes Zimmer. Goethe war munter, vergaß die Kälte, indem er mir von seinen orientalischen Liebesgedichten vorlas. Wir schliefen in einer Stube. Es ist ihm lieb, daß ich bei ihm bin, er hatte wirklich eine Krankheit befürchtet.

Boisserée schreibt weiter:9

SONNTAG 8. Heiteres Wetter.
Morgens nach Würzburg.
Neckar-Elz bis Ober-Scheflenz 1 P.[ost] – 4 St.[unden]
bis Buchen 1 P. – 4 St.
Von Neckar-Elz –– die Höhe hinauf. Kalk-Gebürg – G. erkennt die fränkische Main-Region daran. Der Bediente findet Versteinerungen, Ammonshörner ––.
Geognosie. –– Entstehung der Quellen durch Einsaugen der Luft von den Bergen.

[Glosse am Rand] Wir däumeln im >Divan<. Ich immer unglücklich –– oder doch schlecht und verworren. G. meist verliebt. Wir begegnen –– (zwischen Oberscheflenz und Buchen?) den Maler Jagemann der zu seiner Schwester nach Mannheim reist [...] in Buchen ––– begegnen wir Herrn v. Türck von Ifferten mit Familie und mehreren Kindern, wahrscheinlich noch ein paar Zöglinge – ein ganzer Schweizer Postwagen voll 9 oder 10 Personen. war uns in Heidelberg von Colloredo empfohlen. –– hatte in der Schweiz ein Erziehungs-Haus. –– ist von Meinungen [Meiningen]. und wird nun von Preußen als Ober-Schulrat nach Frankfurt an der Oder berufen. G. Klaglieder über das heutige Erziehungs-Wesen. Versuchen Tasten und Wandern nach der wahren Erziehungs-Art! –– Liebes-Geschichten wechselseitig – Deutsche mögen nur gern die naiven ruhigen, nicht die leidenschaftlichen Frauen. [...] In Hardheim Mittag-Essen ––– junges frisches Mädchen nicht schön aber verliebte Augen. Der Alte kuckt sie immer an. Kuß. alter Mincio. Abends im Dunkel nach Würzburg. [...] MONTAG. 9. der Alte mit klarem kalten Herbstwetter nach Weimar. unter meinen frömmsten Wünschen. Ich geh in den Dom. –– Gebet. –– Soweit die Geschichte, das, was wir wissen über diesen Kuss. Aber es stellen sich noch einige Fragen, so zum Beispiel die nach dem Ort des Geschehens, der bei Boisserée nicht detailliert genannt wird. Aber wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Goethe und sein Begleiter in jenem Hardheimer Gasthaus Rast gemacht haben, das gleichzeitig auch Posthalterei war: Der „Grüne Baum", damals im Besitz des Gastwirts und Posthalters Franz Adam Burkard. Er übergab den Betrieb 1836 seinem Sohn Gottfried Burkard, der sechs Jahre später – wohl aus gut badischem Patriotismus – beim Bezirksamt um die Genehmigung einkam, den Schild in „Zum Badischen Hof" umändern zu dürfen, was ihm auch gestattet wurde. Weshalb man noch heute in jenem Gasthaus eine „Goethe-Stube" findet. Als zweite Frage stellt sich die, was Boisserée wohl mit „alter Mincio" gemeint haben mag? Die Herausgeber seines Tagebuches vermuteten hier einen Schreibfehler und schlugen als Lesart „alter Micio" vor – Micio heißt eine Gestalt in einer Komödie des antiken römischen Dichters Publius Terentius Afer, genannt Terenz, entstanden um 160 v. Chr. Aber das scheint uns wenig Sinn zu machen. Vielmehr heißt der Fluss, der den Gardasee nach Süden entwässert und an dessen Hängen bis heute Reben wachsen, Mincio, in der Schreibweise von Boisseree. Eine kurze Recherche im weltweiten Informationsnetz brachte als Treffer denn auch das Angebot eines italophilen Weinhändlers, bei dem eine Flasche 92er Merlot der Lage „Alto Mincio" für 11,80 DM erhältlich ist. Damit wissen wir auch, was die beiden Reisenden getrunken haben zum Kuss in Hardheim, einen Rotwein, den der Wirt vermutlich zur Ehre des berühmten Gastes aus seinem Keller geholt hat, wobei Sulpiz Boisserée in seinem Tagebuch aus der italienischen Ortsbezeichnung „alto" (hoch) ein deutsches „alter" gemacht hat – der Wein war wohl tatsächlich nicht mehr ganz jung. Aber nun zur dritten und für viele entscheidenden Frage: Wer hat denn nun geküsst dort im Grünen Baum in Hardheim? Gerade über diese Frage haben sich die Literaturwissenschaftler vielfach den Kopf zerbrochen, denn Boisserée schreibt nur lapidar: „Kuß!" Uns hat das Studium der Originalhandschrift nahegelegt, was wir doch alle schon vermutet haben: Goethe hat geküsst, der alte Schwerenöter, kaum dass er sich von der Geliebten getrennt und kurz bevor er zur Ehefrau in Weimar zurückgekehrt ist. Und ihn wollen wir zum Schluss deshalb auch noch einmal zu Wort kommen lassen:10 „Schon bin ich auf die Höhe gelangt, wo die Wasser nicht mehr nach dem Main fließen, ich muß also meine Gedanken der Post anvertrauen. Am 9ten früh gings an ein Scheiden von Boisserée, wo ich denn ganz eigentlich die Trennung fühlte, denn bisher war es noch immer durch seine Gegenwart eine Fortsetzung des glücklichsten Zustands. Auch, wie es zu geschehen pflegt, waren die letzten Stunden die interessantesten. Eine gewisse Scheu verliert sich, wenn man das Unvermeidliche vor sich sieht, und man sucht im offensten Vertrauen einen Ersatz für den drohenden Verlust. Nicht ohne Rührung war der Abschied, und wie man eine Hand umwendet, wäre Sulpiz mit nach Weimar gegangen. Nun war ich denn allein, auf den weiten fruchtbaren Räumen zwischen Main und Main. Zu Werneck nahm ich nochmals von den geliebten Wassern Abschied, nachdem vorher die Weltgeschichte mich ereilt hatte. Auf den weiten Stoppelflächen hetzten Donsche Kosaken verschüchterte Hasen. Eine meilenlange Kolonne des russischen Trains retardierte meinen Eilweg bei hellem Mondschein." Literatur

Boisserée, Sulpiz: Tagebücher. Bd. I: 1808–1823. Darmstadt: Eduard Roether Verlag 1978 (= Sulpiz Boisserée: Tagebücher 1808–1854. Im Auftrag der Stadt Köln herausgegeben von Hans-J. Weitz)

Goethe erzählt sein Leben. Hrsg. v. Hans Egon Gerlach u. Otto Herrmann. München 1981.

Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz.
Bd. 2: Gedichte und Epen II. München 1998
Bd. 9: Autobiographische Schriften I. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. München 1998

Gräter, Carlheinz: Der Kuß von Hardheim: Johann Wolfgang Goethe im Madonnenländle. In: „… muß in Dichters Lande gehen …“ . – München [u.a.], 1989. – S. 183 – 190

Mann, Thomas: Lotte in Weimar. Roman. Frankfurt a.M. 1990

Fußnoten

1 Goethe, Dichtung und Wahrheit (1998), S. 42.

2 Mann, Lotte in Weimar (1990), S. 281.

3 Boisserée, Tagebücher (1978), S. 283; Original im Historischen Archiv der Stadt Köln, Band II/2, S. 39 b ff.

4 Goethe, Gedichte (1998), S. 62.

5 Goethe, Gedichte (1998), S. 82.

6 Goethe, Gedichte (1998), S. 66.

7 Goethe, Gedichte (1998), S. 79 f.

8 Boisserée, Tagebücher (1978), S. 283 f.

9 Das folgende wurde nach dem Original im Historischen Archiv der Stadt Köln, Band II/2, S. 39 b ff. transkribiert.

10 Goethe in einem Brief an Marianne und Johann Jakob Willemer auf der Gerbermühle, zit.n. Goethe (1981), S. 460 f.



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