13. April – 8. Juni 1997
Themen der Ausstellung:
Das Leben von Willi Wertheimer
Willi Wertheimer – ein Hordemer Jude
Zwischen den Welten
Die Anfänge der Geschichte
Im Mittelalter
Zwischen Mittelalter und Neuzeit
Im Fürstbistum Würzburg
An der Wende – der Beginn der Blütezeit
Religiöses Leben in Hardheim
Das religiöse Leben
Das rituelle Bad
Sabbatbräuche
Brit Mila und Bar Mizwa
Der jüdische Friedhof in Hardheim
Auf dem jüdischen Friedhof
Bestattungsbräuche
Jüdischer Alltag in Hardheim
Die Entwicklung der Gemeinde
Berufe
Spurensuche
Häuser und Gebäude
Vom koscheren Essen
Jüdische Familien
Die Familie Eschelbacher
Blütezeit im 19. Jahrhundert
Die Verfassung der Gemeinde
Der Leiter der Gemeinde – Lehrer, Schächter und Rabbiner
Hardheim um die Jahrhundertwende
Die jüdische Gemeinde um die Jahrhundertwende
Am Anfang des 20. Jahrhunderts
Der Erste Weltkrieg
Soldatenpost
In den zwanziger Jahren
Das Ende der Gemeinde
Das nationalsozialistische Programm
Die ersten Jahre des nationalsozialistischen Terrors
Die Nürnberger Gesetze
1935 – 1940
Die "Reichskristallnacht" – eine Mauer des Schweigens
Emigration
Deportation nach Gurs
Enteignungen
Die Schicksale der Hardheimer Juden 1933–1945
In der Nachkriegszeit
Wiedergutmachung
Der "Förster von Brooklyn"
Streben nach Versöhnung – Willi Wertheimer und Hardheim
Konzeption und Durchführung: Peter Wanner M.A.
Unter Mitarbeit von Peter Biller, Gisela Bundschuh, Ingrid Eirich-Schaab, Erich Erbacher, Gudrun Käflein, Susanne Lachenicht, Renate Pietschmann und Gerhard Wanitschek
Dank schulden wir allen, die uns durch Leihgaben oder in anderer Form unterstützt haben, besonders der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld, dem Landesdenkmalamt Baden-Württemberg in Stuttgart, dem Staatlichen Vermessungsamt Buchen und Architekt Wolfram Becker, Buchen.
Die Ausstellung wurde´unterstützt von folgenden Hardheimer Firmen:
Apotheke an der Post/Marianne und Hans-Georg Sitterberg · Adolf & Albrecht Eirich, Maschinenfabrik · Autohaus Gärtner GmbH · Autohaus Günther GmbH · Bermayer Planung GmbH · Bäckerei-Konditorei Dietz · Dörr GmbH, Heizung und Sanitär · Elektro-Hallbaur · Erfapark Apotheke / Bernhard Goldstein · Fotoatelier Horst Bernhard · Wolfgang Gärtner, Türenstudio · Hein GmbH, Internationale Transporte · Albrecht Herbst / Gipser- und Malergeschäft · Helmut Link GmbH · Herbert Maring GmbH · Maschinenfabrik Gustav Eirich · Raimund Müller, Steinemühle · Reum AG, Metall- und Kunststoffwerk · Sozietät Dr. Mühling – Winkler · Sparkasse Tauber-Franken / Filiale Hardheim · Stahl- und Metallbau Schölch GmbH · Volksbank Walldürn / Niederlassung Hardheim
Vitrine 1
Die letzten Spuren der jüdischen Gemeinde in Hardheim…
Aus über 600 Jahren jüdischer Geschichte in Hardheim haben sich nur wenige Spuren erhalten – im Bestand des Erfatal-Museums findet sich nur dieser Chanukka-Leuchter, und die Erinnerung lebt vor allem fort in den Lebenserinnerungen des gebürtigen Hardheimers Willi Wertheimer.
Das Leben von Willi Wertheimer
Tafel 0.1
Willi Wertheimer – ein Hordemer Jude
Am 26. März 1897 wurde dem Lehrer der jüdischen Gemeinde in Hardheim, Emanuel Wertheimer, und seiner Frau Marianne das neunte Kind geboren. Der Junge erhielt den Namen Willi. Nach seiner eigenen Beschreibung erlebte Willi Wertheimer in Hardheim eine unbeschwerte Kindheit, unbeschadet eher ärmlicher Verhältnisse im Elternhaus.
Er besuchte die katholische Kinderschule und die Hardheimer Volksschule, außerdem wie die anderen jüdischen Kinder den zusätzlichen Unterricht in der "Judenschule", wie die kleine Hardheimer Synagoge im Volksmund genannt wurde. Gegen Ende seiner Schulzeit empfahl der Oberlehrer Klumpp den Eltern Willi Wertheimers, ihren Sohn Lehrer werden zu lassen. Willi Wertheimer absolvierte seine Ausbildung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg – zunächst an der israelitischen bayerischen Präparandenschule in Höchberg bei Würzburg, danach ab 1913 am jüdischen Lehrerseminar in Köln.
Im November 1916 mußte Wertheimer einrücken, zunächst zum Infanterie-Regiment Nr. 17, später zum Feldartillerie-Regiment 8, mit dem er im Mai 1917 an die Front in der Champagne verlegt wurde; ab Sommer 1917 lag Wertheimer im Osten an der Ostfront, wenige Wochen vor Kriegsende noch einmal im Westen.
Das Kriegserlebnis hat Willi Wertheimer stark geprägt: "Ich war zwar immer noch ein guter Deutscher, aber der Krieg mit seinen Begegnungen mit dem Ostjudentum hatte in mir die zionistische Idee immer mehr entfacht, sie wuchs in mir und konnte nicht mehr aufgehalten werden."
T 0.1a
Eine Kindheit in Hardheim
"Wir verkehrten natürlich viel mit den Schulkameraden, auch mit den nichtjüdischen, und besonders mit den Nachbarskindern. Es gab immer etwas zu spielen, jede Jahreszeit hatte ihre speziellen
und typischen Spiele und ihre eigenen Reize. Im Winter fuhren wir Schlitten, bauten Schneemänner und warfen Schneebälle, liefen auch Schlittschuh.
So schön der Winter war, es war doch immer wieder ein Erlebnis, wenn mit der Schneeschmelze tausend Bächlein ins Tal flossen und das Wasser in der Erf und allen Gräben gewaltig anstieg. Stundenlang standen wir dann oft am Ufer und sahen den treibenden Eisblöcken nach, und als richtige Kinder vom Land fühlten wir mit Wonne den Frühling nahen, der ganz andere Vergnügen bot. Nun kamen die ersten Blumen, gelbe Primeln, Dotterblumen, die ersten Veilchen und die bläulichroten Kuckucksblumen. Man pflückte, was man fand, und brachte es nach Hause. (…)
Wurde es wärmer, so badeten wir auch schon bald unsere Füße im Riedbach, am Wehr, in den die Erf abgeleitet wurde. Da gab es dann Fische zu beobachten, und zuweilen konnte man auch einige fangen. Die kleinen, frischgeschlüpften mit den glotzenden Augen, die sich massenweise im Wasser tummelten, konnte man erwischen; wir warfen sie dann wieder ins Wasser. Wir nannten sie Rotzer, weil sie sich schlüpfrig anfühlten. (…)
Noch schöner war dann der Sommer. Denn erstens waren die Tage länger, und dann brachte er ja auch die langersehnten
Ferien. Nun wurden die Wälder durchstreift, am Wurmberg, am Schmalberg, am Kreuzberg und Lichtberg. Käfer und Schmetterlinge fingen wir, und nicht nur den bei Kindern so beliebten Maikäfer gab es, nein, selten zwar, aber doch zu finden und sehr begehrt war der große Hirschkäfer mit seinen Zangen, die aussahen wie ein Hirschgeweih. (…)
Wir kletterten auch auf Bäume und suchten Vogelnester, und es gab natürlich auch Kameraden, die die Nester ausnahmen. Ich konnte das nicht, hatte Angst vor der Strafe, wenn es ruchbar wurde, aber auch Mitleid mit den Vögelchen. Es machte mir aber Freude, wenn ich eine schöne bunte Feder fand."
(Willi Wertheimer)
T 0.1b
Willi Wertheimer an einem der Schauplätze seiner Jugend – in der Burggasse wohnten seine Eltern mehrere Jahre im Haus von Schlosser Hallbaur. Die Aufnahme ist wohl im Jahr 1938 entstanden, kurz vor Wertheimers Ausreise.
Zwischen den Welten
Nach dem Krieg arbeitete Willi Wertheimer in verschiedenen Gemeinden der Region als Religionslehrer; sein Weg führte ihn zunächst nach Eubigheim (1919-1924), dann nach Buchen. Dorthin kamen auch die
jüdischen Schüler aus Hardheim, nachdem die Gemeinde hier zu klein für einen Lehrer geworden war.
In den Jahren bis 1938 richtet Willi Wertheimer sein Augenmerk vor allem auf die Verwirklichung der zionistischen Idee – die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina. Er hielt Vorträge und warb für die Ansiedlung in Palästina, half sogar bei der Gründung eines "Hachaluz-Zentrums" in Walldürn und später in Sennfeld, wo junge Juden zu Landwirten ausgebildet wurden, um als Pioniere in das "Land der Väter" gehen zu können.
Innerhalb der jüdischen Gemeinden war der Zionismus in jenen Jahren nicht unumstritten; aber der zunehmende Antisemitismus nach 1933 rückte die Idee eines jüdischen Staates stärker in das Bewusstsein auch vieler deutscher Juden.
Wertheimer kann im Oktober 1938 zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter in die USA emigrieren; als einziger aus seiner Familie war es ihm gelungen, die entsprechenden Papiere zu besorgen – seine Frau hatte Verwandte in den USA.
Dort erwartete die Emigranten keineswegs ein Paradies. Auch Wertheimer mußte sich zunächst mit Hilfsarbeiten durchschlagen; als inzwischen 41 Jahre alter jüdischer Religionslehrer war es schwer, in einem fremden Land Fuß zu fassen. Erst seine Einberufung in die US-Armee, nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren, beendete diese Zeit.
Nach dem Krieg engagierte sich Wertheimer weiter für die Idee des jüdischen Staates und half beim Aufbau von Israel; er wurde Präsident des Weltkomitees des "Jews of Central Europe Memorial Forest Jewish National Fund". Aber auch seiner alten Heimat galt seine Arbeit: schon früh unternahm er Schritte zur Versöhnung und wurde für diese Bemühungen unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Willi Wertheimer starb in New York, wo er am 22. Januar 1982 begraben wurde.
T 0.2a
Jahre der Bedrängnis
"Meine Amtsjahre waren weiter ausgefüllt mit Arbeit; aber auch der Umstand, daß man nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte, konnte nicht verbergen, daß die Apokalyptischen Reiter im Anzug waren. Der Sturm zeigte sich immer deutlicher, es wurde immer ungemütlicher.
Freunde und Nachbarn wendeten sich ab, manche unter Druck. Die Farben wechselten zusehends von Rot zu Braun. Die Lage wurde immer gespannter, am Tag gab es Anpöbelungen und des Nachts, wenn man erwachte, konnte man zum Marschtritt rohe Gesänge hören, »Die Fahne hoch«, »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt« und ähnliche Lieder. Aufmärsche, Kundgebungen und Versammlungen dienten überall der Judenhetze, die Zeichen konnten nicht mehr trügen, es war höchste Zeit zu verschwinden, und wer es konnte, der tat es.
Man brachte die Kinder ins Ausland, soweit das möglich war, und die Eltern folgten später. Hauptziele waren Amerika und Israel. Wie gut war es jetzt, daß durch frühere Abwanderung viele Familien schon Verwandte in Übersee hatten und daß in Israel, das damals noch britisches Mandatsgebiet war, schon junge Idealisten Pionierdienste geleistet hatten.
Die jüdischen Kinder wurden aus den Schulen entlassen, gingen für kurze Zeit noch in jüdische Schulen in Heidelberg oder Esslingen oder kamen in ein Kinderheim oder Waisenhaus nach Frankfurt am Main. Einige gingen auch noch in eine Handwerksausbildungsstätte nach Herrlingen, das war zu jener Zeit die neueste und beste Erziehungsstätte, sie wurde nach England verlegt. Es eilte, nur Monate, schließlich nur Wochen standen zur Verfügung, um die Kinder zu retten."
(Willi Wertheimer)
T 02.b
Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch den Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in New York, George Federer, an Willi Wertheimer im Jahr 1963.
Im Mittelalter
Die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Hardheim reichen weit zurück: schon im Jahr 1318 werden Juden erwähnt, als Kaiser Ludwig der Bayer die Hardheimer Juden um 200 Pfund Heller an die Ritter Werner und Reinhard von Hardheim verpfändet.
Die Gemeinde muß demnach schon eine gewisse Größe erreicht haben und bereits seit einigen Jahrzehnten existieren; genauere Angaben hierzu fehlen jedoch ebenso wie weitere Nachrichten aus der folgenden Zeit. Vor allem bleibt fraglich, wie stark die jüdische Gemeinde in Hardheim von den Pogromen in der Mitte des 14. Jahrhunderts betroffen war.
Als sich in den Jahren 1348/49 die Pest über Europa ausbreitete und vor allem in den Städten ungezählte Opfer forderte, wurden vielfach die Juden beschuldigt, die Seuche durch Vergiften der Brunnen verursacht zu haben. Wie schon Ende des 13. Jahrhunderts, als die Juden unter dem Vorwand der Hostienschändung in blutigen Ausschreitungen zu Hunderten verjagt oder ermordet wurden, kam es auch nun zu Gewalttätigkeiten; viele jüdische Gemeinden gingen unter.
Doch scheint es auch späterhin in Hardheim Juden gegeben zu haben: 1451 gewährt der Erzbischof von Mainz dem Juden Michael von Hardheim einen Schutzbrief – das Schutzrecht der Herren von Hardheim scheint wie der Ort selbst in zwei Teile geteilt worden sein, deren Oberlehensherrschaft zum einen bei Mainz, zum anderen bei Würzburg lag.
T 1.1a
Urkunde Kaiser Ludwigs des Bayern; 14. September 1318
Transkription:
1 Wir Ludowich von Gotes Gnaden Romischer Könich ze allen zeiten merer des Riches. Thun kunt allen /
2 den die disen brief ansehen oder hören lesen. Das wir unsern getrewen Reynharten und Wernhern von Hart/
3 heim umb den dienst, den si uns nuo habent geheyzen ze tuon, gelten süln zwai hundert phunt haller. Und /
4 fuor die selben haller versetzen wir in unser juden die ze Hardheim gesezzen sint, als lang ze halten, bis wir /
5 si umb die vorgeschriben zwai hundert phunt haller von in wider ledigen. Dar über ze urkunde geben /
6 wir in disen brief mit unser Insigel versigelten. Der geben ist ze Frankenfurt. an dem Dienstag /
7 nach des heiligen Creutts tag als es erhöhet wart. Da man zalt von Crists geburt dreyzehen hundert /
8 jare dar nach in dem ahtzehenden Jare in dem vierten Jare unsers Riches
Übertragung:
Wir Ludwig, von Gottes Gnaden Römischer König, zu allen Zeiten Mehrer des Reichs, tun kund allen, die diesen Brief sehen oder hören lesen, daß wir unseren getreuen Reinhard und Werner von Hardheim für den Dienst, den sie uns nun haben geheißen zu tun (um den sie uns gebeten haben), gelten sollen 200 Pfund Heller. Und für dieselben Heller versetzen wir ihnen unsere Juden, die zu Hardheim gesessen sind, so lange zu halten, bis wir sie um die erwähnten 200 Pfund Heller von ihnen wieder ledigen (einlösen). Darüber zur Urkunde geben wir ihnen diesen Brief, mit unserem Siegel versiegelt, der gegeben wurde zu Frankfurt, am Dienstag nach des Heiligen Kreuzes Tag, als es erhöht wurde, da man zählt von Christi Geburt dreizehnhundert Jahre, danach im achtzehnten Jahr, im vierten Jahr unseres Reichs.
(Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Kaiser Ludwig Selekt 165)
Zwischen Mittelalter und Neuzeit
Für vierhundert Jahre versiegen die Nachrichten über die jüdische Gemeinde in Hardheim fast ganz – sporadische Nennungen einzelner Juden aus Hardheim scheinen zu belegen, daß die Gemeinde nach den Wirren des 14. Jahrhunderts nur noch aus wenigen Menschen besteht.
Aber die Gemeinde lebt fort: 1607 verlangt Georg Wolf von Hardheim, der letzte Ortsherr aus dem Geschlecht der Adelsfamilie von Hardheim, daß die Juden im Wertheimischen Teil "abgeschafft" werden – daß in diesem Teil von Hardheim keine Juden wohnen sollen, nachdem den Herren von Hardheim allein das Recht zustehe, Juden aufzunehmen.
Dieses Recht fällt nach dem Aussterben der Herren von Hardheim wie die gesamte Ortsherrschaft an das Fürstbistum Würzburg; die Hardheimer Juden stehen nun unter dem Schutz des Bischofs, dem als Gegenleistung das jährlich zu bezahlende Schutzgeld zusteht.
Aus dem Jahr 1679 stammt schließlich der erste Hinweis auf eine Synagoge in Hardheim. 1707 ist davon die Rede, daß die Juden in des Aberleins Haus keine neue Schule errichten, aber die alte erweitern dürfen: noch in unserem Jahrhundert hieß die kleine Hardheimer Synagoge im Volksmund "Judenschul". Um 1700 leben sechs oder sieben jüdische Familien in Hardheim, insgesamt etwa 35-40 Menschen jüdischen Glaubens.
T 1.2a
Hardheimer Juden im 16. Jahrhundert
1506 wird ein Hardheimer Jude namens Manasse erwähnt, der bei der Einnahme von Impfingen durch kaiserliche Truppen geschädigt wird, wogegen sein Herr, Eberhard von Hardheim, Protest einlegt.
1527 erscheinen die Hardheimer Juden Vemkönig und Wencelslan in den Akten.
1544 wurde Moße Jud von Harten in Brackenheim wegen eines Zollvergehens gefangen genommen; er stammt jedoch möglicherweise aus einem anderen Hardheim (wohl Hartheim bei Meßstetten), denn er nennt den "durchleuchtigsten hochgebornen Fursten vnnd herrnn hern Vlrichen Zu Wirtemberg vnd zu Tecke Grauen Zu Mumpelgart" seinen "genadigen fursten vnd herrnn", ist also wohl württembergischer Untertan.
1567 ließ sich der Jude Abraham aus Hardheim in Grünsfeld nieder, wo er einen Schutzbrief der Landgräfin Mechtild von Leuchtenberg erhielt; ein Jahr später lieh er ihr die Summe von 500 Gulden auf zwei Jahre.
T 1.2b
Der Fürstbischof und die Hardheimer Juden
Anlaß für einen ausführlichen Brief des Fürstbischofs von Würzburg an "Schultheiß, Burgermeister, Vndt rath zue Hartheimb" bot im Jahr 1679 folgende Begebenheit: ein aus dem Mainzer Gebiet verwiesener Jude – er war dort aus unbekannten Gründen an den Pranger gestellt worden – hatte in der jüdischen Gemeinde in Hardheim Unterschlupf gefunden, vielleicht in der "daselbsten vffgerichten Synagii".
Da sich dieser Jude jedoch "illegal" in Hardheim aufhielt (er besaß keinen Schutzbrief), forderte der Bischof die Gemeindeverwaltung nun auf, "daß Ihr dieshalb die propria authoritate angestellte Judenschul mit Vorbedacht der deßwegen verdiensten straff so baldten abgeschaffen vndt es zu vnßerer weiteren determination sodann wid vnderthänigst berichten, demjenigen sich daselbst einschleigenden verwaißlichen Juden aber nicht nur sambt den seinigen vnser Amt Hartheimb ohne Verzug zue räumen, sondern auch bei Vermeidung anderer schärpferen Bestraffung in vnserm Hochstifft sich nicht mehr betretten zu lassen."
Eine harte Strafe für die jüdische Gemeinde: die Synagoge wurde geschlossen, weil widerrechtlich dem genannten Juden Asyl gewährt worden war. Allerdings gibt der Bischof noch eine andere Begründung für sein hartes Vorgehen: es sollen auch in Zukunft keine Juden aus Polen, Ungarn, Österreich, Schlesien und anderen Ländern aufgenommen werden, die zu den "mit der laidig Contagion inficirten ländtern" gehören – also aus Angst vor Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit.
(GA Hardheim, Nachlaß Prailes-Rapp Nr. 57)
T 1.2c
Schutzrecht und Schutzjuden
Bis ins 19. Jahrhundert hinein müssen Juden an ihren jeweiligen "Schutzherrn" eine jährliche Abgabe entrichten: das Schutzgeld. Dafür garantiert der Schutzherr seinen Schutzjuden gewisse Rechte und Schutz.
Dieses Recht geht zurück auf das mittelalterliche "Judenregal": Das ursprünglich alleinige Recht des Königs, Juden anzusiedeln und zu besteuern. Wie in Hardheim so wurden auch in den meisten anderen jüdischen Gemeinden die Schutzrechte an die jeweilige Herrschaft verkauft; auf diese Weise gelangten die Hardheimer Schutzjuden zunächst an die Herren von Hardheim, danach an das Fürstbistum Würzburg, an den Fürsten von Leiningen und schließlich an das Großherzogtum Baden, bis schließlich 1815 die Schutzgelder aufgehoben wurden.
Im Fürstbistum Würzburg
Die Lage der Juden im Fürstbistum Würzburg war im Vergleich vor allem mit kleineren weltlichen Territorien nicht sehr günstig; die finanziellen Belastungen waren hoch und reichten vom Schutzgeld bis hin zu besonderen örtlichen Abgaben.
Aus dem Jahr 1708 datiert so eine Bestimmung des Bischofs, daß in Hardheim (und in Schweinberg) keine zusätzlichen Juden mehr aufgenommen werden dürfen; sie sollen zudem nicht mit Christen unter einem Dach, nicht an der Kirche und nicht an offenen Straßen wohnen.
Dennoch entwickelt sich die jüdische Gemeinde im Markt- und Amtsort Hardheim weiter, und im Jahr 1725 heißt es in einer statistischen Zusammenstellung der Orte des Amtes Hardheim: "Judenschutz / Gehört dem hohenstifft allein seÿndt daselbsten 7. SchutzJuden sambt den wittwÿb". Und im Jahre 1731 werden acht Hardheimer Juden genannt; sie heißen Aberlins Jüdtle, Männlein Jud, Löser Jud, Jüdtlein Jud, Klein Löser Jud, Josua Jud und Frohm Judt.
T 1.3a
Das Testament des Lazarus David aus dem Jahr 1772
Im Verlauf des 18. Jahrhundert treten einige wenige Hardheimer Juden zum Christentum über – 1731 ein Jude namens Meerse und am 3. Mai 1772 ein Jude Abraham aus Pülfringen. Am 31. Mai 1772 ließ sich der Jude Lazarus David aus Hardheim im Alter von 19 Jahren vom Hardheimer Pfarrer Niklaus Bucher taufen. Er bekam den Namen Paul Friedrich Hafthard.
Kurz nach der Taufe verließ Hafthard seinen Geburtsort Hardheim und reiste nach Holland; er hinterließ in einem Brief an den Pfarrer die Verfügung, sein noch ausstehendes väterliches Erbteil für die Hardheimer Kirche zu verwenden, sofern er nicht mehr zurückkommen sollte. Bis 1891 – als die neue Hardheimer Kirche gebaut werden sollte – war die Stiftung auf 15.300 Mark angewachsen und wurde entsprechend verwendet.
T 1.3b
Das Testament des Lazarus Joseph aus dem Jahr 1798
Kurz vor seinem Tod hat der Hardheimer Jude Lazarus Joseph ein Testament aufgesetzt, das in vieler Hinsicht bemerkenswert ist.
Lazarus Joseph stirbt ohne Sohn, "welcher mein Namen denkt", so daß er große Teile seines umfangreichen Vermögens gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung stellt.
"In sofern wir nur Menschen sind, unwissend den bestimmten Zeitpunkt, den wir von dem, der alle Menschen = Seelen in seiner Hand hat, in eine ewige bessere Welt abgefordert werden, und so von den Nachkommen der Weltsäulen Abraham, Isak und Jakob sind, auf deren Frömmigkeit wir uns stützen, in derselben Bahn wir uns befördern, und alles gilt nach dem Entschluß, so sprach die Verheißung zu Abraham: »Sey gesegnet« nemlich mit deinem Namen sollen sie den Segen beschließen, der Beschützer Abraham, auf ihn bezeugt unsere heilige Tora, da weil er seinen Kindern, und seinen Hausgenossen nach ihm befehlt, die Beobachtung Tugend und Gerechtigkeit auszuüben. So sollten wir alle dazu bereit seyn, aber der tausendste Theil verfehlt sich, indem sie ihr Vermögen an Freunde hinterlassen, nicht eingedenk, daß den hinieden nichts begleitet, außer nur das heilige Studium, Wohlthaten, und viel Allmosen von seinem Vermögen, und nun wann soll ich für mein Haus sorgen, nemlich für mein ewigliches Haus? Daher befehle ich als ein Sterbender beschlossener, von meinem hinterlaßenen Vermögen zu vertheilen, und weg zu stellen, für Wohlthaten wie hier weiter folgt:
Vorderhand soll man von meinem hinterlaßenen Vermögen nehmen, an Arme zu vertheilen" – insgesamt 36 Gulden sollen als Almosen verteilt werden.
"Es sollen 10 Betstunden von Gelehrten, wie solche mit Namen verzeichnet sind, vertheilt werden, und wenn die gehörige Zuhläsige Zahl dabei ist, das Schlußgebet "Kadish" darauf zu sagen, und jedem zu geben zehen Thaler."
200 Gulden sollen zu 5 % verliehen und mit dem jährlichen Zins Wachslichter für die Synagoge gekauft werden; 300 Gulden Kapitel sollen für die Ausbildung eines "armen Manns Sohn oder an einen Waisen" benutzt werden, 10 Gulden als Lehr- und 5 Gulden als Kleidergeld; 500 Gulden bilden eine Stiftung für die "Beisteuer einer verwaißten Braut"; 200 fl. dienen der Ausstattung eines Gelehrten, der "jeden Tag eine Stunde für meine Seele lehret, so lange dieser lebt, und meinem Namen dabei zu denken" hat; "noch 100 fl. soll das Kapital samt Prozenten weggestellt werden zu Erbauung einer Synagoge hier in Hardheim".
"Und hiermit befreie ich meine Ehefrau von allem Eide, daß keiner von meinen Nacherben, oder deren Bevollmächtigten befugt seÿ, von ihr zu pretentiren und man soll ihr ihr weiblich Benefizium in vollem Maaße geben, und solange sie im Wittwenstande ist, in meinem Haus wohnen. Und sollten die Interessen ihres Benefiziums für ihren Gebrauch nicht hinlänglich seÿn, so soll man ihr von meiner Verlaßenschaft bis zur Hinreichung geben, so lange sie im Wittwenstande ist."
(GA Hardheim I A 424)
An der Wende – der Beginn der Blütezeit
Die territorialen Veränderungen der napoleonischen Zeit waren verknüpft mit dem Beginn eines tiefgreifenden Wandels der rechtlichen und sozialen Strukturen. Dieser Wandel betraf auch die Stellung der Juden.
Schon 1809 erhielten die Juden bedingt Zugang zu "bürgerlichen" Berufen – über Jahrhunderte hinweg waren sie ausgeschlossen von allen Tätigkeiten mit Ausnahme des Handels (und des Geldhandels). Schon zwischen 1809 und 1816 ergreifen jedoch fünf Hardheimer Juden ein Gewerbe – einer als Schuhmacher, einer als Wachszieher und drei als Seifensieder.
Die damit eingeleitete zunehmende soziale Gleichstellung wird in den folgenden Jahren durch Schritte zur rechtlichen Gleichstellung ergänzt: 1809 wurde eine kirchliche Verfassung erlassen und der Schulbesuch der jüdischen Kinder geregelt, 1815 die Schutzgelder aufgehoben. Nach einigen Rückschlägen erfolgte jedoch erst mit dem Gesetz vom 4. Oktober 1862 die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden.
Daß eine rechtliche Gleichstellung allein die über Jahrhunderte gewachsenen Vorurteile und Konflikte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung nicht zu überwinden vermochte, zeigen die antisemitischen Ausschreitungen im Gefolge der Unruhen im März 1848. Allerdings scheint es in Hardheim in diesem Zusammenhang nicht zu Tätlichkeiten gegen Juden gekommen zu sein. In einem Schreiben der Gemeinde Hardheim nach der Leerung des fürstlich-leiningischen Fruchtspeichers am 10. März 1848 heißt es: "Königliche Hoheit! Trotz der Aufgeregtheit, die allerwärts herrscht, trotz der Unordnungen, die an anderen Orten in ihrem Gefolge waren, ist hier – wo namentlich viele Israeliten wohnen – nicht die geringste Unordnung, nicht die mindeste Störung der Ruhe vorgefallen." In den Listen zur Entschädigung des Fürsten von Leiningen für den durch die Leerung des Speichers entstandenen Schaden erscheinen auch jüdische Namen; so scheint beispielsweise Löb Strauß an der Leerung mit beteiligt gewesen zu sein.
T 1.4b
Im Gemeindearchiv Hardheim hat sich dieses Dokument aus dem Jahr 1817 erhalten: Nach 1806 fiel auch das Schutzrecht für die Hardheimer Juden an Baden, so daß zunächst neu nach Hardheim kommende Juden sich um die Aufnahme als "Schutzbürger" bemühen mußten, wie hier Samuel Feidel Götz:
"Beschluß: Wird nunmehr Samuel Feidel Götz als Schutzbürger nach Hardheim aufgenommen, und demselben zum betrieb des Handels mit Ellenwaaren hirmit für seine Person die nachgesuchte Krämerei Gerechtigkeit ertheilt."
(GA Hardheim I A 171)
T 1.4a
Berufe der Hardheimer Juden
Noch 1805 – als Hardheim zum Fürstentum Leiningen zählte – mußte in Hardheim jeder Jude, der Viehhandel betrieb, jährlich an das Bürgermeisteramt 1 Gulden bezahlen, während die anderen Juden nur 30 Kreuzer entrichten mußten.
Seit Beginn der badischen Zeit wurde dann versucht, den Juden Erwerbsmöglichkeiten außerhalb des Handels zu öffnen, wenngleich dies den meisten zunächst nicht gelang. Die nachstehende Tabelle zeigt die Berufe der Hardheimer Juden in den Jahren zwischen 1809 und 1819.
(GLA Karlsruhe 236 Nr. 953)
T 1.4c
Tabellarisches Verzeichnis über die den Nothhandel treibenden Juden
Billigheimer, Moises Joseph Mäklerei
Blum, Nathan Hirsch Leihhandel
Eschelbacher, Michael Seligmann Vieh
Grünbaum, Liebmann Moises Ellenwaaren und Mäklerei
Halle, Amschel Moises Ellenwaaren und Mäklerei
Hanft, Samuel Simon Mäklerei
Kreis, Isaak Bandwaaren
Oppenheimer, Simon Faust Mäklerei
Reihs, Abraham Moises Schmusen
Schwarzmann, Israel Schmai Mäklerei
Sinzheimer, Josef Läser Mäklerei
Stadecker, Abhraham Seligmann Vieh
Strauhs, Simon Moises Ellenwaaren und Vieh
Urspringer, Läser Isaak do.
Tabellarisches Verzeichnis über diejenigen Israeliten, (…) welche sich seit dem Jahre 1809 auf ein anderes bürgerliches Gewerbe als auf den Handel (…) gelegt haben
Fälkel Strauß Seifensieder
Lazarus Sinzheimer dto.
Löb Strauß Wachszieher
Seligmann Eschelbacher Seifensieder
Abraham Halle Schumacher
Das religiöse Leben
"Das jüdische Leben ist nicht so einfach, und es gibt so vieles, was ein Nichtjude ohne weiteres tun darf, was uns aber verboten ist. Unsere Gemeinde war gut geführt, die Brüder und Schwestern bewahrten ihrem Glauben Treue und beobachteten streng die überlieferten Gebote und Vorschriften. Sabbate und Feiertage wurden gehalten, und auch die rituelle Küche wurde gewissenhaft geführt." (Willi Wertheimer)
Das Leben der jüdischen Gemeinden am Anfang des 20. Jahrhunderts war – insbesondere auf dem Land – geprägt von der strengen Einhaltung der religiösen Bräuche. Täglich morgens und abends besuchten die Männer ab dem 13. Lebensjahr (d.h. nach der Bar Mizwa) den Gottesdienst in der Synagoge. Die Frauen durften nur an Feiertagen an den Gottesdiensten in der Synagoge teilnehmen. Der Gemeindegottesdienst konnte nur abgehalten werden, wenn mindestens zehn männliche Beter anwesend waren (diese Mindestzahl heißt Minjan, nach 1. Mose 18,32).
Die jüdische Gemeinde in Hardheim war um die Jahrhundertwende nur noch eine kleine Mittelgemeinde. Aber trotz der Abwanderungen wurde das religiöse Leben in der Gemeinde weitergeführt:
"Solange noch zehn männliche Personen zur Gemeinde gehörten, konnte der tägliche G’ttesdienst nach Gesetz und Vorschrift abgehalten werden. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Abhaltung der G’ttesdienste infolge Rückgang der jüdischen Gemeinde Hardheims gefährdet. Nach der Machtübernahme des »Haman« hörte das jüdische Leben ganz auf und die Synagoge wurde verkauft." (Willi Wertheimer)
T 2.1c
Die Hardheimer Synagoge
Schon im 17. Jahrhundert wird in Hardheim eine Synagoge erwähnt, die an der Wende zum 18. Jahrhundert zu klein oder baufällig geworden zu sein scheint, als die jüdische Gemeinde 1707 die bischöfliche Genehmigung erhält, die alte "Judenschul" erweitern zu dürfen.
Die Synagoge, wie sie vielen Hardheimern noch in Erinnerung ist, wurde im Jahr 1805 erbaut; das Gebäude wurde nach der Zerstörung des Betsaals 1938 durch die jüdische Gemeinde verkauft. Willi Wertheimer erinnert sich: "Die Synagoge bildete einen dreistöckigen Bau. Im ersten Stock befand sich das Schulzimmer, im zweiten der Betraum für Männer und ein kleiner, von diesem durch ein Holzgitter abgetrennter Raum für Frauen. Im dritten Stock gab es einen weiteren Betraum. Diese Synagoge stellte einen bescheidenen einfachen Bau, bar jeglichen Prunkes, dar. Auch die Inneneinrichtung war den Verhältnissen der jüdischen Bevölkerung angepaßt. Die Gebetpulte, die Sitzbänke, das Vorbeterpult und der Torarollenschrein waren älteren Datums. Ein einfacher Chanukkaleuchter und ein Lüster aus glitzerndem Kristall bildeten den einzigen Schmuck des Betsaals.
Zu den Feiertagen wurden vor dem Torarollenschrein, der Heiligen Lade, seidene Vorhänge aufgehängt, die mit jüdischen Emblemen bestickt waren. Die Kerzenhalter an den Wänden wichen später elektrischen Beleuchtungskörpern; deren Anschaffung sowie die eines zweiten Lüsters belasteten den Haushalt der Gemeinde sehr stark. Dieser zweite Lüster schwebte über dem Almenor, dem Pult für die Torarolle, für die Vorlesung der für bestimmte Tage fälligen Abschnitte. Neben der Heiligen Lade hing eine Wanduhr. Eine Tafel am Eingang zum Betsaal diente Bekanntmachungen und Ankündigungen der Gemeindeverwaltung. Ein zinnernes Becken an der linken Seite der zweiten Treppe diente den religiösen Waschungen."
(Willi Wertheimer)
Das rituelle Bad
Nach der biblischen Tradition ist zur Wiedererlangung der kultischen Reinheit aus verschiedenen Anlässen ein Tauchbad (Mikwe) vorgeschrieben: nach der Heilung von bestimmten Krankheiten, nach Berührung von Toten oder bei Frauen jeweils nach der Menstruation. Ebenso mußte der Hohepriester am Versöhnungstag (Jom Kippur) vor jeder seiner Amtsverrichtungen ein Tauchbad nehmen. Die Mikwe diente auch dem Eintauchen neuer Gefäße aus Glas und Metall vor ihrem Gebrauch.
Einige der Vorschriften für Frauen sind bis zur Gegenwart von Bedeutung: Monatlich einmal nach der Menstruation sowie vor der Hochzeitsnacht und nach einer Niederkunft soll die rituelle Reinigung in der Mikwe erfolgen.
Nach den Bestimmungen in dem Mischna-Traktat "Mikwaot" muß das Tauchbad in fließendem Wasser oder in Regenwasser, das in Gruben oder sonstigen Bodenvertiefungen gesammelt wird, vollzogen werden. Das Bassin darf nicht aus einem Stück bestehen – da es sonst als ein Gefäß betrachtet wird, in welchem ein rituelles Untertauchen nicht stattfinden darf -, sondern muß aus einzelnen zusammengefügten Steinplatten gebaut und am Boden befestigt oder in der Erde eingemauert sein.
In fast allen jüdischen Gemeinden – so auch in Hardheim – bestanden Mikwen, d.h. Badehäuser, zur Durchführung der rituellen Bäder. Daneben gab es in einigen Hardheimer Häusern auch "private" Bäder, so im Keller des früheren Hauses Urspringer in der Walldürner Straße sowie im Haus Selig, ebenfalls in der Walldürner Straße.
T 2.2a
Erlaß des Großherzoglichen Bezirksamts Walldürn; 16. November 1822
Im Rahmen der Gleichstellung der Juden in Baden kümmerte sich die Obrigkeit zunehmend auch darum, daß die religiösen Regeln und Bräuche nicht gegen staatliche Vorschriften und Gesetze verstießen. So war es ein Anliegen der badischen Regierung, daß die jüdischen Frauenbäder medizinischen und hygienischen Vorschriften entsprechend gestaltet wurden, wobei vor allem daran Anstoß genommen wurde, daß die rituelle Reinigung in fließendem Wasser stattzufinden hatte, dies im Winter jedoch als nicht der Gesundheit zuträglich eingestuft wurde.
Deshalb werden im obigen Schreiben "die israelitischen Vorsteher zu Walldürn und Hardheim" auf eine Verordnung "das nach religiösen Gesetzen gebotene Baden der israelitischen Weiber betr." hingewiesen, wonach sowohl "das Badzimmer gehörig gewärmt" als auch "innerhalb eines Jahrs ein warmes Bad eingerichtet werden soll."
(GA Hardheim I A 172)
T 2.2b
Erinnerungen an das Hardheimer Frauenbad
"Ursprünglich war das alte Judenbad am ehemaligen Haus Fieger angebaut; es war 2stöckig mit Vorder- und Hintertüre. Nur Frau Sinsheimer, Frau Strauß und Frau Rosenthal kamen noch zum Baden. Eine andere Frau kam etwa 3 Stunden vor der Badezeit zum Anheizen.
Das Bad befand sich im Fußboden, steingemauert, etwa sechs Treppen führten nach unten, an der zweitletzten Stufe kam kaltes Wasser (wie man sagte zum Abwaschen der Sünden), der Wasserkessel faßte ca. 200-300 Liter. Die Badende hatte immer eine Begleitperson, die nicht badete, sie wartete in der leeren Vorstube."
(Aus den Erinnerungen einer Hardheimerin)
T 2.2c
Das Hardheimer Frauenbad befand sich ursprünglich auf dem Gelände der früheren Mittelmühle – auf dem Foto das zweistöckige Haus rechts. Das Gebäude wurde 1927 von der Firma Eirich erworben, die dafür ein neues Bad in der Holzgasse erbaute.
Vitrine 2
V 2.1
Tefilin
Die Tefilin – Gebetsriemen – wurden beim Morgengebet um den Kopf und den linken Arm geschlungen; die Kästchen enthalten Pergamentstreifen mit Tora-Abschnitten. Das Kästchen auf der Stirn trägt dabei den hebräischen Buchstaben Schin (V), der Kopfriemen ist in Form des Buchstabens Dalet (B) und der Riemen über dem linken Arm in Form des Jod (W) gebunden, so daß das Wort Schaddaj – "der Allmächtige" – gebildet wird.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 2.2
Pessach-Haggada; 1926
Die "Oster-Erzählung" enthält die Liturgie der häuslichen Pessach-Feier; dieses Buch stammt aus dem Besitz von Siegbert Zwang aus Sennfeld, einem Bekannten von Willi Wertheimer.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 2.3
Talit; 1935
Der Gebetsmantel, bestehend aus einem viereckigen Tuch mit Fransen, die an den vier Ecken länger sind, wird beim Gemeindegebet in der Synagoge getragen. Diesen Gebetsmantel erhielt der frühere Sennfelder Warren Hirsch bei seiner Bar-Mizwa.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 2.4
Mesusa
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 2.5
Mesusa; 19. Jahrhundert
Das hebräische Wort Mesusa – "Pfosten" – bezeichnet eine Kapsel, die am rechten Türpfosten befestigt wurde und eine kleine Pergamentrolle mit Texten aus der Tora enthielt. Beim Ein- oder Austritt durch die Tür wurde die Kapsel berührt.
Die Kapsel zeigt entweder in einem Sichtfenster oder als Schmuck den Buchstaben Schin (V), der für den Namen Gottes steht.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 2.6
Schofar
Der Schofar besteht aus einem Widderhorn, das als Blasinstrument verwendet und am Neujahrsfest sowie am Schluß des Versöhnungstages (Jom Kippur) geblasen wird.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 2.7
Kippa
Dieses Gebetskäppchen stammt aus dem Besitz von Willi Wertheimer.
(Leihgabe der Judaica-Bibliothek im Jugenddorf Seckach Klinge / Pfarrer H. Duffner)
Vitrine 3
V 3.1
Israelitisches Trauungs-, Geburts- und Sterbebuch; 1826
Im 19. Jahrhundert – bis zur Einführung des Standesamts – wurden die Standesangelegenheiten der jüdischen Gemeinde in diesem Buch festgehalten, das heute eine wertvolle Quelle für die jüdische Familiengeschichte darstellt.
(Leihgabe Katholisches Pfarrarchiv Hardheim)
V 3.2
Blätter eines hebräischen Messekalenders
In den weltlichen Bereich gehört dieses Dokument – da bis in unser Jahrhundert hinein der Handel eine der wichtigsten Einnahmequellen der Juden geblieben ist, gab es Zusammenstellungen von Messen und Jahrmärkten auf hebräisch.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 3.3
Teile von Gebetbüchern
Es war Brauch, ausgediente religiöse Schriften nicht einfach wegzuwerfen, sondern sie in der Genisah aufzubewahren – einem Ort in der Synagoge, oft unter den Holzbohlen des Dachbodens. Die hier gezeigten Stücke wurden in der früheren Synagoge in Sennfeld gefunden.
(Leihgabe der Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld; Reinhart Lochmann)
V 3.4
Gebetbuch
Aus dem Besitz von Willi Wertheimer stammt dieses Gebetbuch.
V 3.5
Gebetbuch
(Leihgabe der
udaica-Bibliothek im Jugenddorf Seckach Klinge / Pfarrer H. Duffner)
V 3.6
Dr. Isak Unna: Rabbi Elia. Der Gaon von Wilna und seine Zeit; 1926
Dieses Büchlein fand sich auf einem Hardheimer Dachboden und stammt mit Sicherheit aus dem Besitz eines jüdischen Hardheimers. Die Biographie eines baltischen Rabbiners, der im 18. Jahrhundert lebte und wirkte, wurde von Dr. Isak Unna verfaßt, in den zwanziger Jahren Rabbiner in Mannheim, und gelangte als Jahresgabe an die Mitglieder des "Vereins zur Wahrung der Interessen des gesetzestreuen Judentums in Baden" im Jahr 1926 nach Hardheim.
Vitrine 4
V 4.1
"Ester-Rolle", wohl aus dem Bestand der jüdischen Gemeinde Hardheim
"Im Mittelpunkt des Purimfestes am Winterende standen die Verlesung seiner Urgeschichte in der Synagoge aus der sogenannten Ester-Rolle und die Festmahlzeit im Familienkreise. Aber fröhlich wurde es dann, wenn wir uns maskierten und an jüdischen Häusern betteln durften. Das war ein Tag der Ausgelassenheit für uns sonst so brave Kinder. Das war unsere Fastnacht, wir Buben verkleideten uns als Mädchen und die Mädchen als Buben. Oft trugen wir aber auch Masken und stellten alles mögliche dar, sogar oft den Teufel." (Willi Wertheimer)
Das Buch Ester steht im dritten Teil der hebräischen Bibel und wird wie Kohelet den "Fünf Festrollen" zugeordnet. Die novellenartige Erzählung, deren Entstehungszeit vermutlich um 300 v.Chr. anzusetzen ist, erklärt die Entstehung des jüdischen Purimfestes: Ester, die jüdische Gemahlin des Perserkönigs Ahasveros (Xerxes), rettet mit ihrem Pfleger Mordechai die persischen Juden vor dem Anschlag des Großwesirs Haman. Der Tag der geplanten Vernichtung der Juden im Perserreich war durch das Los (pûr) schon auf den 13. Adar (Februar/März) festgesetzt. Ester erwirkt während eines Festmahls beim König den Sturz Hamans und die Rettung der persischen Juden. Daraufhin wird der 14. Adar zum Festtag erklärt (Purimfest, abgeleitet von pûr).
In der Synagoge wird das Buch Ester zweimal verlesen – am Vorabend des Festes und am Morgen. Bei jedem Vorkommen des Namens Haman – er gilt als Inbegriff des Antisemiten – wird gelärmt: man stampft mit den Füßen auf, die Kinder drehen Ratschen.
Purim ist ein profanes, weltliches und fröhliches Fest. Das Festmahl spielt auch in der Estererzählung eine große Rolle. Nicht zuletzt soll man reichlich trinken – ein berühmter und immer wieder zitierter talmudischer Satz lautet: "Ein Mensch ist verpflichtet, sich am Purimfest anzuheitern, bis er nicht mehr zu unterscheiden weiß zwischen »Verflucht sei Haman!« und »Verflucht sei Mordechai!«"
V 4.2
Kohelet-Schriftrolle
Das Buch Kohelet (griech. Ecclesiastes; dt. Prediger) zählt neben dem Buch Ester zu den "Fünf Festrollen" in den hagiographischen Büchern der Bibel und wird am Laubhüttenfest vorgelesen. Der Verfasser, der sich selbst Kohelet nennt (ZLUN), ist uns nicht bekannt; das Buch Kohelet dürfte jedoch um die Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. entstanden sein.
Die Sprache ist ein ganz neuartiges Hebräisch, in dem einerseits die aramäische Alltagssprache, andererseits unter dem Einfluß des Hellenismus schon manches griechische Wort- und Satzmuster seinen Niederschlag findet.
Kohelet enthält Betrachtungen über die Unbeständigkeit alles Irdischen: Angesichts des sicher kommenden Todes erweist sich alles als "Windhauch". Die Weisung für die rechte Lebensführung ist geleitet von der Mahnung, in Gottesfurcht die Gabe des jeweiligen Augenblicks zu ergreifen: Jede Freude zu genießen und überall da, wo es sich anbietet, tatkräftig zu handeln. Denn jedes "Jetzt" ist die dem Menschen gegebene Zeit. Er soll nie vergessen, daß er auf Alter und Tod zugeht.
Eine Besonderheit dieser Schriftrolle wie anderer religiöser Texte sind die "Tagin" – drei feine Linien an der oberen linken Ecke von bestimmten Buchstaben wie z.B. dem Zeichen C (bei insgesamt sieben der 22 hebräischen Buchstaben). Die Tagin unterstreichen die mystische Bedeutung eines Textes insofern, als jeder zusätzliche Strich und jedes zusätzliche Zeichen zusammen mit den Buchstaben und Wörtern der Tora als aufschlußreiches Symbol der außerordentlichen Geheimnisse des Universums und der Schöpfung gelten.
Vitrine 5
V 5.1
Orgelpfeifen der Synagoge in Karlsruhe, Kronenstraße; 1875
Orgeln finden sich in Synagogen erst seit dem 19. Jahrhundert, nur in liberalen Gemeinden und meist in den Städten; die Synagoge in Hardheim hatte keine Orgel. Diese Orgelpfeifen stammen aus der 1872-1875 erbauten Karlsruher Synagoge, die 1938 zerstört wurde.
Die Orgel war 1875 durch die Orgelbaufirma H. Voit & Söhne aus Karlsruhe-Durlach erbaut worden; sie muß vor dem Abbruch der Synagoge nach der "Reichskristallnacht" abgebaut worden sein, denn die Orgelpfeifen gelangten auf bislang unbekanntem Weg in die katholische Kirche in Karlsruhe-Rüppurr, wo sie bei einem Orgelneubau durch die Firma Vleugels entdeckt wurden und nach Hardheim kamen.
(Leihgabe der Firma Orgelbau-Vleugels, Hardheim)
V 5.2
Stein
aus der ehemaligen Hardheimer Synagoge; 1805
Dieser Stein war im Erdgeschoß der früheren Synagoge in der Inselgasse an einer Tür eingemauert, die zur Remise für den Leichenwagen der jüdischen Gemeinde führte; für welchen Zweck der Raum ursprünglich eingerichtet war, ist unbekannt.
V 5.3
Chanukka-Leuchter
V 5.4
Kleiderbügel
Nur noch wenige Zeugnisse berichten von der Rolle der Hardheimer Juden in Handel und Gewerbe – wie dieser Kleiderbügel des früheren Textilhauses Urspringer in der Walldürner Straße. Das Geschäft wurde 1938 an einen Kaufmann aus Bretzingen verkauft.
Sabbatbräuche
"Der Freitagabend bildete einen der Höhepunkte im jüdischen Familienleben. Auf dem mit blütenweißen Linnen gedeckten Tisch stehen zwei in silbernen Leuchtern brennende Kerzen. Auf dem Platz des Hausherren befinden sich zwei Weißbrote besonderer Art, Challoth oder Barches genannt, die mit einer eigens für diesen Zweck gestickten Decke verhüllt sind, neben ihnen ein silberner Becher mit Wein gefüllt. Nachdem beide Eltern ihren Kindern einzeln den Segen erteilt haben, spricht der Vater über dem Wein den Schabbathweihespruch, Kiddusch genannt, und nach vorschriftsmäßiger Händewaschung und zwei weiteren Segenssprüchen wird das Brot angeschnitten, kleine Stücke mit etwas Salz bestreut werden unter die Anwesenden verteilt. Es folgt die Mahlzeit, deren einzelne Gänge durch Schabbathgesänge unterbrochen werden. Das (teilweise) gesungene Tischgebet beschließt die häusliche Freitagabendfeier." (Willi Wertheimer)
Der jüdische Wochenfeiertag beginnt am Freitag etwa 45 Minuten vor Sonnenuntergang und endet am Samstag etwa 15 Minuten nach Sonnenuntergang. Am Freitag abend gehen die Männer in Festtagskleidung zu einem kurzen Gottesdienst in die Synagoge. Danach folgt das Sabbatessen zuhause im Kreis der Familie; das Sabbatbrot – die Barches – wurde in Hardheim jahrzehntelang von der Bäckerei Bödigheimer geliefert.
Am Sabbatmorgen findet ein langer Gottesdienst statt. Den Rest des Tages verbringt die Familie mit Ausruhen, bevor die männlichen Mitglieder der Familie am Abend nochmals zum Beten in die Synagoge gehen. Nach dem Sabbatgebot ruht am Samstag jegliche Arbeit, auch Kochen und Backen sind verboten. Das Essen für den Sabbat wurde oft schon am Freitag vorbereitet und warm gestellt.
T 2.3a
Jüdische Feiertage
Im Jahreslauf werden drei Wallfahrtsfeste gefeiert:
Das Pessachfest im Frühjahr ist das Fest der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft.
"Das Pessachfest erinnert uns an den Auszug aus Ägypten, aus der Sklaverei. Acht Tage darf nach dem Gesetz nur ungesäuertes Brot gegessen werden. Dieses Brot, Mazzo genannt, buk die Bäckerei Hahn in Külsheim. (…) Der Höhepunkt des Festes ist der Vorabend, der Sederabend, mit seiner geheimnisvollen Feierlichkeit und mit seinen uralten lithurgischen Gesängen." (Willi Wertheimer)
An Schawuot oder dem Wochenfest sieben Wochen nach Pessach wird die Offenbarung am Sinai, die Übergabe der Zehn Gebote und der Tora durch Gott an Moses gefeiert.
Sukkot – das Laubhüttenfest im Herbst – wird begangen zur Erinnerung an die Zeit der Wüstenwanderung der Israeliten.
Zu den hohen Festtagen gehören Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, das im Herbst gefeiert wird, und im Anschluß an Neujahr die "Zehn Tage der Umkehr" mit dem Versöhnungsfest Jom Kippur als Höhepunkt.
Darüber hinaus gibt es zwei fröhliche Feste: das Chanukkafest oder Lichtfest, um die Zeit der Wintersonnenwende, und Purim, das Fest der Lose, basierend auf der biblischen Estergeschichte.
"Das Chanukkafest dauerte acht Tage und hat als Sinn die Reinigung des Tempels, nachdem dieser in der Makkabäerzeit von den Feinden entweiht wurde. Es fand sich nur ein kleiner Rest geweihtes Öl, für einen Tag, und das neue Öl brauchte acht Tage, bis es geweiht war. Man zündete trotzdem den Leuchter an, und es geschah das Wunder, daß dieser kleine Rest acht volle Tage brannte. Darum heißt das Fest auch Lichtfest oder Makkabäerfest."
T 2.3b
Willi Wertheimer beim Bau der Laubhütte für das Sukkot-Fest im Jahr 1925, hinter der Synagoge in Buchen.
"Die Laubhütten schmückten wir sehr schön aus Papiergirlanden und Ketten von Hagebutten, zwischen jeder Hagebutte ein farbiges Papier, sie hingen in kleinen Bogen von der Decke. Der süßliche Duft der Hagebutten erfüllte die Sukkah. Silberne und goldene Glaskugeln, Figuren in verschiedenen Farben, angebunden an dünnen Schnüren, schwebten am Laubdach, auch einzelne Früchte wie Äpfel, Birnen, Trauben und Zwetschgen waren an ihm aufgehängt. In der Mitte hing ein Mogen David (Davidstern) aus Holz, überzogen mit Stanniolpapier. (…) Ein Tisch mit Bänken und Stühlen machte die Hütte wohnlich. Über dem Laubdach befand sich vielfach ein solides Dach, das aufziehbar war und nur bei Regenwetter zugezogen wurde. (…). Durch das Wohnen in der Laubhütte bringen wir alljährlich der Vorsehung symbolisch zum Ausdruck, daß sie unsere in ihrem 40jährigen Wüstenleben in Zelten wohnenden Vorfahren vor allen Unbilden geschützt hat."
(Willi Wertheimer)
T 2.3c
Schabbath in Hardheim
"Freud und Leid trugen die Angehörigen der jüdischen Gemeinden, besonders der kleineren, miteinander. Der Schabbath und die anderen Feste waren Tage des Ausruhens und für die Kundigen Tage des Torastudiums. Auch besuchte man sich gegenseitig und machte kleinere Spaziergänge.
Ein großer Teil der Gemeinde suchte nach dem Schabbathmittagsg’ttesdienst den Biergarten von Schretzmann in der Schweinberger Straße oder den Deutschen Hof in der Miltenberger Straße auf. Zu den dort gereichten Getränken verzehrte man die verbotenerweise mitgebrachten Eßwaren; denn das Hinaustragen von Gegenständen aus einem Privatbezirk auf die Straße und umgekehrt ist religionsgesetzlich unzulässig. Deshalb trugen nichtjüdische Hausangestellte den Verzehr der Hardheimer, die die Vorschriften strenger beachteten, in die angegebenen Lokale. Aus gleichem Grund bezahlten sie die Getränke am Sonntag. Wir Kinder und Jugendlichen vertrieben uns die Zeit in den schattigen Gärten mit frohem Spiel, hüpften und tanzten herum, bis der Abend kam und man aufbrach. Die Frauen und wir gingen heim und die Männer in die Synagoge, auch »Schul« genannt.
In diesen Biergärten waren auch Kegelbahnen, und wir Jugendliche hatten es auf diese abgesehen, aber das Auge des Gesetzes wachte scharf. Kegeln war am Schabbath verboten, eine Übertretung dieses Gesetzes brachte uns unweigerlich eine Zurechtweisung der Eltern ein und am Sonntag im Religionsunterricht eine scharfe Verwarnung des Lehrers oder gar den spanischen Stock."
(Willi Wertheimer)
Brit Mila und Bar Mizwa
Brit Mila, die Beschneidung der Jungen, wird nach dem biblischen Gebot am achten Tag nach der Geburt vollzogen. Das Fest findet statt zur Erinnerung an Abraham, der seinen Sohn beschneiden ließ – als Dank dafür, daß ihm seine Frau noch so spät einen Sohn geboren hatte.
Die Beschneidung wird von einem Mohel durchgeführt, der speziell dafür ausgebildet ist. Brit Mila ist ein großes Familienfest.
Der Höhepunkt im Leben eines Jungen ist Bar Mizwa, das am Sabbat nach Vollendung seines 13. Lebensjahres gefeiert wird. Während dieser Feier wird er als Vollmitglied in die Synagogengemeinde aufgenommen.
Während des Gottesdienstes liest der Bar Mizwa ("Sohn der Pflicht") den Wochenabschnitt aus der Tora vor – eine Aufgabe, auf die er sich in den Monaten zuvor vorbereitet hat.
"An seinem 13. Geburtstag wurde jeder Knabe unter der Verpflichtung, die Reiligionsgesetze zu beachten, als gleichwertiges Mitglied in die jüdische Gemeinde aufgenommen. Diesem Tag ging eine monatelange Unterweisung in der Ausübung des jüdischen Gesetzes voraus. Gleichfalls wurde er in der kantilenengerechten Verlesung einer oder mehrerer Abschnitte der an dem seinem Geburtstag folgenden Schabbath fälligen Perikope vorbereitet. Dieses im Leben des jungen Menschen einschneidende Ereignis, Bar Mizwa genannt, wurde von der Familie und Gemeinde gebührend gefeiert, da er nun als ein Garant für den Fortbestand betrachtet wurde. Zu Hause waren schon Tische gedeckt mit Gebäck, Konfekt, Obst und Likör, und man erwartete die Männer und Frauen der Gemeinde, die dem jungen Mann gratulieren wollten. Man lobte seinen schönen Gesangsvortrag und es wurden Geschenke überreicht." (Willi Wertheimer)
T 2.4a
Holegrasch
"Ganz besondere Festtage waren für Kinder und Heranwachsende die Namensgebung eines Kindes, »Holegrasch« genannt. Etwa vier Wochen nach der Geburt, wenn die Mutter des Kindes in die Synagoge ging und der glückliche Vater vom Vorbeter ein Dankgebet sprechen ließ, fand dann im Hause dieser Familie eine Festlichkeit statt. Eine große Schar Kinder kam da in diesem Haus zusammen, alle miteinander hoben sie das Körbchen oder das Kinderwägelchen mit dem neuen Erdenbürger auf und riefen gemeinsam: »Holegrasch, wie soll’s Bobele heißen?«
Darauf wurde der Name genannt, und der meist auch anwesende Lehrer sprach vorher und nachher einen Segensspruch. Dann kam der Höhepunkt für uns Kinder. Wir erhielten die ersehnte Tüte mit Konfekt, Obst, mit Nüssen und anderen Leckerbissen."
(Willi Wertheimer)
T 2.4b
Die Rolle der Frauen
Die Frauen nahmen eine besondere Stellung innerhalb der Gemeinde ein; sie durften nur an Feiertagen in die Synagoge und mußten dort im abgeschrankten Teil Platz nehmen. Für sie gelten auch die Vorschriften der rituellen Waschungen – früher wurde ein Mädchen am Tag vor ihrer Hochzeit durch ihre erste Teilnahme am rituellen Bad zur Frau erklärt.
"Da von alters her der jüdischen Frau die Sorge um den rituellen Haushalt und die Erziehung ihrer Kinder oblag, ist sie von einer ganzen Reihe von Geboten dispensiert, zu deren Beobachtung lediglich der Mann verpflichtet ist. Den Tugenden der Frau hat König Salomo einen besonderen Abschnitt in seinem Spruchbuch gewidmet. Dieses Preislied zitiert der jüdische Mann am Freitag abend nach seiner Rückkehr vom Schabbath-Eingangsg’ttesdienst deklamierend oder singend bei gedecktem Tisch und versammelter Familie."
(Willi Wertheimer)
Der jüdische Friedhof in Hardheim
Auch in kleineren jüdischen Gemeinden wuchs im Laufe des 19. Jahrhunderts das Bedürfnis nach einem eigenen Friedhof. Die Hardheimer hatten bislang ihre Toten in Külsheim beigesetzt. Im Dezember 1875 kaufte die jüdische Gemeinde auf Initiative des Synagogenrates Grund und Boden für einen eigenen Friedhof, der am 27. Juni 1876 in Verbindung mit der ersten Beerdigung (Schemaia Billigheimer, Grab Nr. 7) durch Bezirksrabiner Esslinger aus Merchingen eingeweiht wurde. Der Bürgermeister übergab den Schlüssel und hielt eine kurze Ansprache. Die jüdische Gemeinde hatte in dieser Zeit mit 158 Personen ihre höchste Mitgliederzahl erreicht.
Der israelitische Friedhof von Hardheim liegt, wie damals allgemein üblich, abseits vom Ort auf einem landwirtschaftlich nicht zu nutzenden Gelände am Waldrand. Das von einer Hecke umgebene, wiesenbewachsene Gelände hat eine Größe von 8,54 Ar. Die Anzahl der Grabsteine beträgt 93. Ein Weg trennt das belegte Feld von einem fast unbelegten. Die Steine sind in Reihen angeordnet, einige haben eine Einfassung. Insgesamt handelt es sich um einen einfachen Friedhof des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit vorwiegend Sandsteinstelen.
Einige Grabplatten fehlen, der Sandstein ist zum Teil verwittert. Die neueren Granitstelen sind dagegen sehr gut erhalten. Sehr viele Steine sind durch Friese, Palmetten, Blüten, Zweige und ähnlichem geschmückt. An Symbolik finden sich der nach unten hängende Blumenstrauß, ineinandergelegte Hände, die Levitenkanne, die gebrochene Säule, der Davidstern und Mohnkapseln.
Die letzte Beerdigung vor der Verschleppung und Ermordung der Juden fand am 29. Januar 1939 (Grab Nr. 16) statt.
T 2.5a
Gesamtansicht und Detailaufnahmen vom jüdischen Friedhof in Hardheim
Unter den 93 Gräbern befinden sich auch die Gräber von für die jüdische Gemeinde wichtigen Persönlichkeiten wie das des Lehrers Jehuda Eschelbacher, des Lehrers, Vorbeters und Mohels Josef Urspringer sowie des Lehrers Emanuel Wertheimer.
Als Herkunftsorte der Bestatteten werden außer Hardheim noch Wachbach, Gissigheim, Zeckendorf/Bayern, Hainstadt und Sulzburg genannt. Die Gräber sind, im Gegensatz zu den christlichen, nicht für eine begrenzte Dauer, sondern für die Ewigkeit angelegt und dürfen daher nicht aufgelöst oder neu belegt werden. Der israelitische Landesverband als Rechtsnachfolger der früheren jüdischen Gemeinde sorgt in Zusammenarbeit mit der Kommune für die Pflege und Sicherung des Friedhofes nach jüdischer Tradition. Die größten Zerstörungen entstanden – abgesehen von Schändungen – durch Witterungseinflüsse.
Auf dem jüdischen Friedhof
Der Hardheimer Judenfriedhof besteht aus drei Feldern. Das linke ist noch unbenutzt, in der Mitte liegt das eigentliche Gräberfeld, rechts sind vier einzelne Kindergräber verstreut angelegt.
In der äußersten rechten oberen Ecke befindet sich das Grab von Ida Wertheimer, die als Wöchnerin starb, deshalb nach jüdischer Auffassung unrein war und abseits beerdigt werden mußte.
Tafeln und Inschriften der Gräber Nr. 9, 29, 40, 56 und 90 fehlen. Die Namen der dort Beigesetzten konnten anhand der Sterbedaten und Sterberegister rekonstruiert werden.
Willi Wertheimer zufolge sollen noch zwei Kinder – Frieda Wertheimer, gestorben am 2. August 1901 im Alter von eindreiviertel Jahren, und Kurt Strauß – ohne Stein auf dem Friedhof begraben sein, was sich allerdings nicht nachweisen läßt.
Die letzte Beerdigung auf dem Hardheimer Judenfriedhof fand am 29. Januar 1939 (Grab Nr. 16 von David Berwanger) statt. Hitlerjugend und Jungvolk mußten auf Anordnung der Parteijugendführung zur Begräbnisfeier erscheinen und sich entlang des Friedhofes aufstellen, wie sich ältere Hardheimer erinnern. In Hardheim hat man sich später erzählt, daß David Berwanger ein Säckchen voller Steine mit ins Grab bekommen habe, um im Jenseits den Messias bewerfen zu können, da er den Juden nicht geholfen habe.
T 2.6b
Verzeichnis der Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof von Hardheim
Nr. | Name, Vorname | Sterbedatum |
1 | Sinsheimer, Mayer (Meir) | 21.09.1880 |
2 | Halle, Helene (Hendel) | 29.10.1879 |
3 | Eschelbacher, Miriam | 17.01.1878 |
4 | Billigheimer, Rivka | 12.11.1877 |
5 | Halle, Pesle | 06.05.1877 |
6 | Urspringer, Rivka | 11.03.1877 |
7 | Billigheimer, Schemaia | 25.06.1876 |
8 | Strauß, Mosche | 05.09.1901 |
9 | Dilsheimer, geb. Halle, Ernestine | 07.09.1901 |
10 | Selig, Max (Mordechai) | 21.09.1902 |
11 | Wertheimer, Naftali | 24.11.1902 |
12 | Friedberger, Lazarus (Elieser) | 27.02.1903 |
13 | Billigheimer, Sara | 14.06.1903 |
14 | Straus, geb. Brunner, Regina | 03.07.1904 |
15 | Eschelbacher, Max | 29.07.1936 |
16 | Berwanger, David | 29.01.1939 |
17 | Straus, Abraham | 18.02.1884 |
18 | Straus, Mirjam (Sara Miriam) | 03.02.1884 |
19 | Sinsheimer, Jitle | 10.12.1883 |
20 | Straus, Simon | 03.09.1883 |
21 | Halle, Rosa | 07.05.1883 |
22 | Lacher, Auguste (Golde) | 08.12.1882 |
23 | Eschelbacher, Jehuda | 27.05.1881 |
24 | Eschelbacher, Falk (Joschua) | 27.11.1880 |
25 | Schwarzmann, Hanchen | 29.04.1905 |
26 | Strauß I, Isac Kaufmann | 04.02.1906 |
27 | Hanft, Sophie (Sprinz) | 10.12.1906 |
28 | Straus, Aron | 19.01.1908 |
29 | Strauss, geb. Dilsheimer, Rosa | 24.03.1909 |
30 | Eschelbacher, Helene (Chana) | 14.05.1909 |
31 | Halle, Zerline (Zerle) | 01.05.1888 |
32 | Urspringer, Ricka (Rivka) | 16.01.1888 |
33 | Urspringer, Josef | 16.06.1887 |
34 | Jentle, Gattin des Chaim Dow | 15.07.1886 |
35 | Strauss, Bernhard (Perez) | 10.07.1886 |
36 | Selig, Louis (Elieser) | 26.06.1886 |
37 | Straus, Karolina (Gitel) | 02.03.1886 |
38 | Strauss, Leopolt (Jehuda) | 22.02.1885 |
39 | Urspringer, Abraham | 14.04.1910 |
40 | Dilsheimer, Abraham | 20.09.1910 |
41 | Urspringer, geb. Löwenstein, Judith | 24.07.1911 |
42 | Loewenstein, Isak | 11.04.1913 |
43 | Sinsheimer, geb. Eschelbacher, Justina (Dina) | 02.05.1913 |
44 | Strauss, Isaak | 18.08.1916 |
45 | Lengfelder, geb. Ansbacher, Babette (Beile) | 10.04.1893 |
46 | Hanft, Lazarus (Elieser) | 10.11.1892 |
47 | Götz, Bertha (Berle) | 02.05.1892 |
48 | Sinsheimer, Adolf (Chaim Seew) | 03.11.1891 |
49 | Straus, Karolina (Keile) | 01.03.1890 |
50 | Sinsheimer, Jette (Jitle) | 22.02.1890 |
51 | Halle, Samuel | 01.01.1890 |
52 | Schwarzmann, Fany (Fromet) | 16.09.1888 |
53 | Selig, Hilda (Chulda) | 01.07.1918 |
54 | Selig, geb. Urspringer, Sophie (Sara) | 10.12.1918 |
55 | Billigheimer, Moses | 17.06.1919 |
56 | Eschelbacher, geb. Siegel, Zerline | 01.09.1920 |
57 | Eschelbacher, Emil (Mordechai) | 08.12.1920 |
58 | Strauss, Martha (Miriam) | 01.02.1921 |
59 | Sinsheimer, Joseph | 07.05.1921 |
60 | Straus, Karolina (Keile) | 02.09.1896 |
61 | Eschelbacher, Karolina (Gidel) | 26.07.1896 |
62 | Schwarzmann, Josef | 11.05.1896 |
63 | Schwarzmann, Abraham | 30.11.1894 |
64 | Hanft, Madel | 11.09.1894 |
65 | Sinsheimer, Elise (Ella) | 02.01.1894 |
66 | Urspringer, Hirsch (Mosche Zwi) | 11.06.1893 |
67 | Sinsheimer, Isak | 11.02.1922 |
68 | Urspringer, Elise (Ella) | 03.04.1923 |
69 | Sinsheimer, Abraham | 12.01.1925 |
70 | Schwarzmann, Moses | 05.05.1925 |
71 | Wertheimer, Emanuel (Menachem) | 03.10.1926 |
72 | Wertheimer, Anselm | 31.03.1918 |
73 | Wertheimer, Nany (Nendel) | 22.08.1928 |
74 | Hanft, Moses | 25.12.1926 |
75 | Wertheimer, Jana (Miriam) | 24.08.1901 |
76 | Strauss, Josef | 08.05.1901 |
77 | Halle, Gerson | 18.01.1901 |
78 | Rosenthal, Sara | 14.06.1899 |
79 | Sinsheimer, Julie (Nenle) | 07.03.1899 |
80 | Friedberger, Sophie (Zerle) | 04.02.1899 |
81 | Selig, Moses | 23.09.1898 |
82 | Strauss, Abraham | 14.03.1927 |
83 | Strauss, Berta (Beile) | 31.05.1934 |
84 | Strauss, Karolina (Keile) | 23.12.1927 |
85 | Sinsheimer, geb. Thalheimer, Babette (Beile) | 19.02.1928 |
86 | Strauss, geb. Dilsheimer, Frieda (Fradel) | 26.09.1930 |
87 | Hanft, geb. Berwanger, Jeanette | 20.03.1932 |
88 | Billigheimer, Julius | 08.06.1935 |
89 | Wertheimer, geb. Langfelder, Ida (Eidel) | 01.04.1890 |
90 | Wertheimer, Lazarus | 18.04.1890 |
91 | Urspringer, Herta | 1907 |
92 | Billigheimer, Leopold (Jehuda) | 03.11.1878 |
93 | Eschelbacher, Getti (Gitel) | 04.07.1878 |
Bestattungsbräuche
"Der Verstorbene wurde nach jüdischem Brauch in einen einfachen Brettersarg gelegt, dieser auf eine Bahre gesetzt und mit einer schwarzen Decke verhüllt. Nun war es bis dahin üblich, daß vier starke Männer die Bahre den langen Weg durch die Schweinberger Straße am "Paradeis" vorbei und dann unweit der alten Külsheimer Straße, am Hang des Schmalbergs den Wald entlang, bis zu dem dort gelegenen jüdischen Friedhof trugen. Das war sehr beschwerlich. So entschloß man sich, dem Beispiel der christlichen Kirchengemeinde folgend, ebenfalls zur Anschaffung eines Leichenwagens. Der Friedhof in Hardheim wurde 1876 angelegt. Vorher wurden die Toten der jüdischen Gemeinde in Hardheim auf dem altehrwürdigen Friedhof in Külsheim beigesetzt. (…)
Starb ein Gemeindemitglied, so trauerte die ganze Gemeinde und erzeigte den Hinterbliebenen aufrichtige und innige Anteilnahme. Zum letzten Liebesdienst gehört das Waschen und Einkleiden der Verstorbenen. Diese Tätigkeit wurde in Hardheim wie in allen jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt ehrenhalber von den Mitgliedern der zu diesem Zweclse innerhalb der Gemeinde bestehenden Bruder- und Schwesternschaften ausgeübt. Sie stellten auch die Ehrenwache bis zur Beerdigung, die von der Bruderschaft vorgenommen wurde, bei der im Namen der Gemeinde ihr Rabbiner oder Lehrer Abschied von dem Heimgegangenen nahm. Für die Hinterbliebenen wurde der G’ttesdienst morgens und abends im Trauerhause während der folgenden sieben Trauertage abgehalten, in dessen Rahmen der Lehrer einen sinngemäßen Lehrvortrag für das Seelenheil der Toten hielt. Wie in vielen anderen jüdischen Gemeinden wurden wir Kinder vom Friedhof ferngehalten."
(Willi Wertheimer)
T 2.7a
Inschrift auf dem Grabstein von Emanuel Wertheimer
1) Siehe, der Gerechte hat ewigen Bestand (Proverbia 10,25).
2) Hier ist verborgen
3) unser Lehrer, der Raw,
4) der Chawer, Rabbi Menachem, Sohn des Naphtali, das Andenken des Gerechten sei zum Segen,
5) genannt Emanuel Wertheimer, Frucht eines schönen Baumes (Leviticus 23,40).
6) 50 Jahre diente er im Dienst des Heiligen zur Ehre und zum Ruhm,
7) und von diesen mehr als 40 Jahre in der heiligen Gemeinde Hardheim in all ihren Bedürfnissen:
8) im Gebet, in der Schechita, und er lehrte die Jungen der Herde und die Knaben und Mädchen,
9) er gab zu trinken von den Heilquellen (Jesaja 12,3) und legte [die Lehre] öffentlich aus; und vielen gab er zurück
10) Hilfe; und er führte die Versammlung seiner Gemeinde im Glauben; sein gepriesener Name ging [= war bekannt] im ganzen
11) Land. Die wahre Lehre war in seinem Mund und er hörte nicht auf zu lernen (bSchabbat 30b),
12) und er machte die Nacht zum Tage [= er arbeitete Tag und Nacht]. Gottesfurcht war sein Schatz und er nahm es genau
13) mit den Geboten und er setzte sein Vertrauen in Gott allein in allen Lebenslagen.Er war die Pracht
14) seiner Familie und wurde sehr geehrt in den Augen seiner Freunde; er liebte die Geschöpfe
15) und wurde von allen geliebt, die ihn kannten. Und er tat Gutes jedem Menschen. Und vor seiner Ehre kommt
16) Demut (Proverbia 15,12 und 18,33). Bitterlich klagt und weint und bejammert ihn, Verwandte und Ferne
17) wenn seine Seele aufsteigt in die Höhe in Heiligkeit und Reinheit am
18) 25. Tischri 687 nach der kleinen Zählung, im 73. Lebensjahr.
19) Und sie brachten ihn zur Ruhe in schwerer [= tiefer] Trauer und mit Hochachtung.
20) Sein Andenken möge nicht enden bis ans Ende der Geschlechter!
21) Seine Seele möge eingebunden sein im Bündel des Lebens.
Anmerkung zur Übertragung
Zitate sind kursiv gesetzt, in der Klammer folgt die Verweisstelle. Mit Ausnahme eines Zitates aus dem babylonischen Talmud (angegeben als b für babylonisch, Schabbat als Name des Buches und 30b als Blattnummer) stammen alle Zitate aus der Bibel.
Die Entwicklung der Gemeinde
Seit dem 17. Jahrhundert wuchs die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Hardheim stetig von etwa 30 Menschen bis auf 85 im Jahr 1833 und 155 im Jahr 1885. Seither ging die Zahl jedoch wieder zurück – 1933 lebten noch 55 Juden in Hardheim.
Die Ursachen für diesen Verlauf der Entwicklung sind vielfältig – zunächst ist seit dem 17. Jahrhundert ein starkes Wachstum der Bevölkerung insgesamt ausschlaggebend, das bis in das 19. Jahrhundert hinein anhält und sich sogar beschleunigt, bedingt durch bessere Lebensbedingungen und medizinische wie hygienische Fortschritte. Mit Beginn der Industrialisierung beginnt sich dieser Trend jedoch umzukehren.
Ein Beispiel bietet hier die Familie Billigheimer: Pfeiffer Bär Billigheimer war zweimal verheiratet und wurde zwischen 1830 und 1853 Vater von 14 Kindern, von denen acht noch im ersten Lebensjahr starben. Sein ältester Sohn Moyses Billigheimer, geboren 1830, hatte vier Kinder, von denen eines mit acht Jahren verstarb, dessen Sohn wiederum fünf Nachkommen, von denen keines als Kind starb. Ähnlich die Familie Urspringer: der "Urvater" der Hardheimer Familie, Lazarus Urspringer, hatte zwischen 1811 und 1830 zehn Kinder, sein ältester Sohn Joseph dagegen nur fünf Kinder, und dessen Sohn Abraham Hirsch Urspringer nur noch drei.
Im ländlichen Raum spielen zudem noch weitere Faktoren eine Rolle: aufgrund der schlechten Erwerbsmöglichkeiten verlassen immer mehr Menschen das Erfatal, um zunächst in Übersee, später dann in den industriellen Zentren bessere Lebensbedingungen zu suchen. Dies trifft gerade auch für die Menschen jüdischen Glaubens zu, deren Lebensgrundlagen im ländlichen Raum sehr schlecht waren.
Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung von Hardheim; in der Blütezeit der Gemeinde stieg der Anteil bis auf etwa 7,5 % (1885); bis 1925 fiel der Anteil auf nur noch 2,8 %.
Berufe
Über Jahrhunderte hinweg waren Juden von Landwirtschaft und Handwerk ausgeschlossen und mußten ihren Lebensunterhalt durch Handel – nicht zuletzt durch Geldhandel – erwerben. Dies wird auch in Hardheim deutlich, wo sich noch Anfang des 19. Jahrhunderts mehr als ¾ der ansässigen Juden durch "Nothandel" ernährten.
Diese Grundstruktur bleibt bis nach 1933 erhalten, wenngleich aus dem Kleinhandel teilweise Fachgeschäfte mit überregionaler Bedeutung erwachsen sind; hier ist vor allem die Eisen- und Maschinenhandlung Selig zu nennen, die im Raum zwischen Heidelberg und Würzburg führend war.
Pfeifer Billigheimer war Gerber und Lederhändler und Julius Sinsheimer besaß eine Seifensiederei in der Bretzinger Straße – wohl einer der ältesten Betriebe in Hardheim überhaupt, denn schon um 1810 wird Lazarus Sinzheimer als Seifensieder in Hardheim erwähnt.
Daneben gab es in Hardheim einige Einzelhandelsgeschäfte: das Kurzwarengeschäft der Schwestern Amalie und Sophie Schwarzmann, das Schuhgeschäft von Julius Strauß, die Kolonialwarenhandlung mit Mehlhandlung von Moses Strauß und das Textilgeschäft von Jakob Urspringer.
Eine koschere Speisegaststätte wurde von Moses und Jeanette Hanft in der Holzgasse betrieben, die auch von Christen gerne besucht wurde und wegen ihres guten Essens und der vorzüglichen Weine weithin bekannt war.
Schließlich sind noch die Viehhändler zu nennen – Max Eschelbacher, Liebmann Rosenthal, Sigmund und Josef Simon und Bernhard Strauß; Sigmund Rosenthal betrieb gleichzeitig eine Metzgerei.
T 3.2a
Eine Rechnung wird beglichen
Es gehört wohl zu den weitverbreitetsten antisemitischen Vorurteilen, Juden hätten ihre Mitbürger durch Wucher um Hab und Gut gebracht. Nicht nur die nebenstehende Rechnung widerspricht diesem Vorurteil.
Am 16. April 1912 stellt der jüdische Geschäftsmann A. H. Urspringer, der in Hardheim ein Bekleidungsgeschäft betreibt, eine Rechnung aus: seit 10 Jahren hat er einem (christlichen) Mitbürger Kleider verkauft – u.a. 1902 einen Kinderanzug, 1903 zwei Anzughosen und ein Hemd, 1905 eine Hose und eine gestrickte Weste, 1906 zwei Hemden etc. -, die unbezahlt blieben und angeschrieben wurden. Die Schuldensumme betrug nach 10 Jahren nach Abbezahlung von 8 Mark noch 59 Mark und 73 Pfennige.
Nun verpflichtet sich der Schuldner, den Restbetrag im Laufe des Jahres 1912 abzubezahlen und ihn mit 5 % zu verzinsen. Aus dem handschriftlichen Quittungsvermerk des Kaufmanns Urspringer geht hervor, daß er den restlichen Betrag am 7. September 1913 erhalten hat – ohne Zinsen.
T 3.2b
Das bedeutendste Geschäft mit jüdischem Besitzer war ohne Zweifel die Eisen- und Landmaschinenhandlung M. Selig, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnte – sie bestand 83 Jahre lang, bis der Inhaber Max Selig im Jahr 1939 Hardheim verlassen mußte. Das Foto zeigt hinter der Maschine Max Selig in jungen Jahren, etwa um 1930.
Spurensuche
Heute lassen sich nur noch wenige versteckte Spuren der jüdischen Geschichte im Straßenbild der Gemeinde Hardheim entdecken – die meisten Häuser in ehemals jüdischem Besitz haben ihr Aussehen völlig verändert, viele stehen gar nicht mehr.
Inschriften und Zeichen sind ebenso sehr oder ebenso wenig präsent wie das Wissen um ihre Herkunft. Aber manche erinnern sich noch an die Zeit vor 1940 und sehen die auch heute noch vorhandenen Zeugen einer langen Geschichte.
T 3.3a
Der Giebel des früheren Hauses Selig zeigt noch heute die Initialien MS – sie stehen für Moses Selig, den Gründer der Firma M. Selig und Vater von Abraham Selig.
T 3.3b
Die Hardheimer Synagoge wurde 1805 erbaut – der Türstein zeigt dieses Datum noch heute; das vielleicht jüdische Ornament (vielleicht auch ein hebräischer Schriftzug) wurde jedoch entfernt.
T 3.3d
Inschrift am Haus Böhrer in der Bretzinger Straße 5. In diesem Haus wohnte die Familie Wertheimer seit etwa 1905 bis zum Tod von Emanuel und Nany Wertheimer 1926 bzw. 1928. Willi Wertheimer erinnert sich: "Am Eingang dieses Hauses stand im Grundstein eingemeißelt ein sinnvoller, frommer Spruch: »Ohne Gebet, ohne G’tteswort, geh nie aus Deinem Hause fort.« Jeder, der das Haus betrat oder verließ, mußte den Spruch lesen, und es war stadtbekannt, daß der gläubige Judenlehrer Wertheimer den Hausbesitzer veranlaßt hatte, ihn einmeißeln zu lassen. Die fromme Familie Böhrer war jedenfalls stolz auf diesen Spruch."
Häuser und Gebäude
Vor allem im Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden den Juden häufig Beschränkungen für den Ankauf und den Bau von Häusern auferlegt, was teilweise zur Entstehung abgeschlossener jüdischer Wohnviertel führte, im Extremfall – meist in den Städten – sogar zu ummauerten Gettos.
Auch in Hardheim gab es solche Bestimmungen; aus dem 17. Jahrhundert ist überliefert, daß Juden hier nicht mit Christen unter einem Dach, nicht an der Kirche und nicht an offenen Straßen wohnen durften. Vor allem im Bereich der Inselgasse, an deren Eingang heute noch die ehemalige Synagoge steht, wohnten deshalb viele Juden. Die Gasse heißt teilweise bis heute im Volksmund "Judengasse".
Als jedoch im 19. Jahrhundert solche Bestimmungen ihre Gültigkeit verloren, wandelte sich das Bild, wenngleich sich in Hardheim nach wie vor räumliche Schwerpunkte feststellen lassen: vor allem entlang der Walldürner Straße und in der Holzgasse lebten bis zuletzt viele jüdische Bürger, während sich in der "Judengasse" in den dreißiger Jahren nur noch die Synagoge befand.
T 3.4a
Nr. | Gebäude / Name des Besitzers | Adresse | Bemerkungen |
1 | Seifensiederei Sinsheimer | Bretzinger Str. 6 | Mietshaus |
2 | Julius Sinsheimer | Holzgasse 5 | |
3 | Synagoge | Inselgasse 2 | |
4 | Pfeifer Billigheimer | Wertheimer Str. 39 | |
5 | Jeanette Halle | Wertheimer Str. 41 | |
6 | Selma Hanft | Holzgasse 6 | |
7 | Henriette Israel | Holzgasse 7 | |
8 | Liebmann Rosenthal | Walldürner Str. 13 | |
9 | Sigmund Rosenthal | Bretzinger Str. 27 | |
10 | Sophie Schwarzmann | Walldürner Str. 20 | |
11 | Abraham Selig | Walldürner Str. 28 | |
12 | Sigmund Simon | Walldürner Str. 14 | |
13 | Julius Sinsheimer | Holzgasse 3 | |
14 | Arthur Strauß | Wertheimer Str. 30 | |
15 | Frieda Strauß | Walldürner Str. 11 | |
16 | Karoline Strauß | Walldürner Str. 7/1 | |
17 | Moses Strauß | Walldürner Str. 23 | |
18 | Jakob Urspringer | Walldürner Str. 2 | |
19 | Max Eschelbacher | Burggasse 8 | |
20 | Max Eschelbacher | Marktplatz | bis 1920; Geburtshaus von Willi Wertheimer |
21 | Jüdisches Bad | Mittelmühle | bis 1927 |
22 | Jüdisches Bad | Holzgasse 13 | |
23 | Jakob Urspringer | Marktplatz |
Häuser in jüdischem Besitz; 1933
Die Tabelle enthält die Gebäude, die sich nach Unterlagen der Volkszählung 1933 in jüdischem Besitz befanden und die auf nebenstehendem Plan mit den entsprechenden Nummern gekennzeichnet sind.
(GA Hardheim I A 318)
T 3.4b
Die Walldürner Straße um 1920 mit einigen Häusern, die damals in jüdischem Besitz waren – das zweite Haus auf der linken Seite war das Haus Rosenthal, dahinter war das Haus Schuh-Strauß; das zweite Haus rechts war das Haus Mehl-Strauß, in der Mitte ist das Haus Urspringer zu sehen.
T 3.4c
Willi Wertheimer um 1938 vor dem Haus Greulich, in dem die Familie Wertheimer vor 1900 einige Jahre zur Miete wohnte; links davon das Haus Schuh-Strauß, links daneben das Haus Rosenthal.
Vom koscheren Essen
Die jüdische Gemeinde in Hardheim achtete streng auf die Einhaltung der in der Bibel festgelegten und im Talmud näher ausgeführten Gesetze für Nahrungsmittel. Die Speisen, die den rituellen Vorschriften entsprechen, werden als koscher bezeichnet.
Insbesondere die Bestimmungen für den Fleischverbrauch und das rituelle Schlachten (Schächten) mußten streng eingehalten werden: Beim Schächten wird mit einem langen, scharfen Messer ein rascher Schnitt quer durch Halsschlagader, Speise- und Luftröhre des Tieres vorgenommen. Das Ausbluten des Tieres beim Schächten ist Voraussetzung dafür, daß das Fleisch als koscher betrachtet werden kann – nach dem Gebot der Bibel (1. Mose 9,4) darf Fleisch "nicht mit seinem Blut" gegessen werden. Darüber hinaus ist der Verzehr von Schweinefleisch verboten.
Weitere Vorschriften betreffen das Backen vor allem der Sabbatbrote (Barches) sowie der Mazzen (Mazzot), Brotfladen ohne Sauerteig, für das Pessachfest; letztere mußten aus jüdischen Bäckereien stammen (die nächstgelegene Mazzenbäckerei befand sich in Külsheim).
Auch in der Küche gab es Regeln – vor allem die Trennung von fleischigen und milchigen Speisen, für die unterschiedliches Geschirr verwendet werden mußte.
T 3.6c
In der Küche
"In sehr lebendiger Erinnerung ist mir noch der aus Stein gehauene flache Wasserstein in der Küche, wo wir gewöhnlich unsere Hände und Gesichter wuschen. Auch den großen eisernen Herd kann ich mir noch gut vorstellen mit dem Wasserbecken. Links davon war die sogenannte Setzmaschine, die am Samstag den Herd ersetzen mußte. Die Speisen für den Sabbat wurden am Freitag schon gekocht und in dieser Setzmaschine für den Sabbat warm gehalten. Nach jüdischem Gesetz dürfen ja am Sabbat bestimmte Werkverrichtungen nicht vollzogen werden, zu denen auch das Kochen und Backen zählen. Im Sommer aß man zuweilen dann kalte Speisen. Im Winter aber wollte und konnte man nicht auf warmes Essen verzichten. So wurde der Kaffee am Ofen im Wohnzimmer warm gehalten. Außer den beiden Geschirregalen, z.T. für Fleisch- und Milchspeisen, befanden sich noch ein Schrank, ein großer Tisch, eine Bank und mehrere Stühle in der Küche. Der Fußboden war ein Bretterboden, Linoleum gab es noch nicht. Er mußte geschrubbt und zuweilen geölt werden. Das war natürlich eine schwere Arbeit, und unsere Mädchen mußten schon frühzeitig im Haushalt mit Hand anlegen, obwohl sie darüber nicht erbaut waren, aber es blieb nichts anderes übrig, da unsere Eltern sich keine Hausangestellte leisten konnten, und nur zur großen Wäsche die alte treue Frau Roth kam.
Unsere Mutter sah man nicht oft auf der Straße, dazu hatte sie keine Zeit, und zum Einkaufen wurden wir geschickt. Nur zum Fleischeinkauf sah man die »stolze, großgewachsene Frau« des jüdischen Lehrers in den verschiedenen Metzgereien. Meistens Donnerstag kaufte man das frische koschere Fleisch. Als Schwester ihres Bruders Siegfried, eines Münchener Metzgers, verstand sie etwas vom Fleischeinkauf und brachte es immer reichlich auf den Tisch." (Willi Wertheimer)
T 3.6a
Vorschrift für das Schächten; 1889
Auf Grund des §. 95. R. Str. G. B. wird für die Gemeinde Hardheim folgende Ortspolizeiliche Vorschrift erlassen:
§. 1.
Das Niederlegen größerer, nicht vorher betäubter Schlachtthiere (Ochsen, Kühe, Kalbinnen, Rinder, Färsen) behufs der Schlachtung muß rasch und sicher und ohne Beschädigung des Schlachtthieres erfolgen. Verboten ist insbesondere, zum Zweck des Niederlegens das Thier an dem Kopf und an dem Hals allein in die Höhe zu ziehen, Fallseile ohne Lederfesselriemen zu verwenden und das Thier auf einen unebenen harten Boden zu werfen, wenn derselbe nicht mit Stroh, einer Fallmatratze oder sonstigen die Bodenunebenheiten ausgleichenden und Verletzungen des Thieres verhütenden Gegenständen bedeckt ist. Auch soll verhütet werden, daß gefesselte Thiere sich der Fessel entledigen oder sonstwie sich wieder aufrichten.
§. 2.
Während des Niederlegens muß der Kopf des Thieres gehörig unterstützt und geführt werden, damit ein Aufschlagen desselben auf den Fußboden und ein Bruch der Hörner vermieden wird.
§. 3.
Bei dem Niederlegen des Thieres hat der Schächter zugegen zu sein, damit die Schächtung unmittelbar darauf vorgenommen werden kann. Die Schächtung selbst muß sicher und schnell ausgeführt werden.
§. 4.
Nicht nur während des Schächtungsaktes sondern auch für die ganze Dauer der nach dem Halsschnitt eintretenden Muskelkrämpfe muß der Kopf des Thieres festgelegt werden, damit nicht der bewegliche Kopf des in Muskelkrämpfen liegenden Thieres am Boden aufgeschlagen und namentlich an den Hörnern verletzt wird.
§. 5.
Die Schächtung darf nur durch erprobte Schächter ausgeführt werden.
§. 6.
Das Blut der nach israelitischem Ritus geschlachteten Tiere darf nicht aufgefangen werden.
§. 7.
Zuwiderhandlungen gegen diese Bestimmungen werden gemäß §. 95 R. Str. G. B. an Geld bis zu 20 M bestraft, sofern nicht nach §. 360. Ziff. 13. R. Str. G. B. eine strengere Strafe – Geldstrafe bis zu 150 M oder Haft bis zu 6 Wochen – verwirkt ist.
Vorstehenden Entwurf der ortspolizeilichen Vorschrift wird die Genehmigung und Zustimmung ertheilt, und mit Erlaß Grh. Herrn Landeskommissars vom 18. September 1889 für vollziehbar erklärt; laut Verfügung Großh. Bezirksamts Buchen vom 23. September 1889 No. 19321.
Jüdische Familien
Die ältesten Belege über die Familien, die bis zu ihrer Auswanderung oder Deportation in Hardheim lebten, reichen bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts mußten die Juden Familiennamen annehmen und es wurden Familienstandsregister geführt, in der Regel bei den Pfarrämtern. Das in Hardheim noch vorhandene Register beginnt im Jahr 1816.
Geht man davon aus, daß bei der Annahme eines Familiennamens häufig der Herkunftsort als Name gewählt wurde, so ist zu vermuten, daß die Hardheimer Familien Billigheimer, Eschelbacher, Sinsheimer und Urspringer etwa eine oder zwei Generationen davor hierher gekommen waren. Länger ansässig könnten die Familien Halle und Hanft gewesen sein.
Der Name Schwarzmann erscheint 1835 erstmals als "hier ansässig". Mehrere nicht miteinander verwandte Familien führten den Namen Strauß: Der Zweig des Viehhändlers Strauß stammt aus dem bayerischen Erlau; er heiratet in die Familie Billigheimer ein. Zu den Hardheimer Vorfahren des "Schuh-Strauß" zählt die Familie Dilsheimer – Abraham Löb Dilsheimer (aus Buchen) wurde 1854 Schutzbürger, erhielt eine "Concession zum Betrieb eines Ellenwaarengeschäftes" und heiratete Esther Halle, deren Eltern bereits das Geschäft betrieben. 1890 heiratete dann Isak Strauß aus Burgsinn ein.
Die Familie Selig geht auf Moses Selig aus Königheim zurück, der um 1870 Sophie Urspringer heiratete, und der Name Rosenthal auf Liebmann Rosenthal aus Gelnhausen in Hessen, der als Witwer im Jahr 1900 Mina Urspringer heiratete. Auf ähnliche Weise erscheinen zwei weitere Namen in Hardheim: Sigmund Simon aus Echzell in Hessen heiratet 1905 Sara Sinsheimer und Wolf Israel aus Strümpfelbrunn – gefallen im Ersten Weltkrieg – 1914 Jette Sinsheimer.
Von einigen dieser Familien – Halle, Hanft, Schwarzmann und Urspringer – waren bereits vor Beginn der Naziherrschaft die männlichen Nachkommen aus Hardheim weggezogen, so daß es diese Namen hier heute wohl nicht mehr gäbe. Aber die Familien Billigheimer, Rosenthal, Selig, Simon und Strauß könnten heute noch unsere Mitbürger sein.
Die Familie Eschelbacher
Sehr weit zurückverfolgen läßt sich die Geschichte der Familie Eschelbacher in Hardheim. Sie geht nach den Forschungen von Dr. Elmar Weiß zurück auf einen Juden namens Joseph, der wohl in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts aus Eschelbach im Kraichgau nach Hardheim kam; er wurde 1787 auf dem Friedhof in Külsheim begraben.
Der Enkel dieses Joseph, Michael Seligmann, nimmt den Namen Eschelbacher an; auf ihn geht die gesamte Familie Eschelbacher in Hardheim zurück.
Einer seiner Söhne – Löb Eschelbacher – wurde Hauptlehrer an der Israelitischen Gemeindeschule in Hainstadt; sein Sohn wiederum war Dr. Josef Eschelbacher, der zunächst Bezirksrabbiner in Bruchsal wurde, wo er auch den "Landesverein zur Erziehung israelitischer Waisen im Großherzogtum Baden" gründete. Er wurde im Jahr 1899 als Rabbiner nach Berlin berufen.
Der letzte in Hardheim lebende Eschelbacher war Max Eschelbacher, der 1936 starb; seine ledige Tochter Laura
schelbacher wurde in einem Vernichtungslager ermordet.
T 3.9b
Dieser Brief – eine Einladung an die Vorstandsmitglieder des "Landesvereins zur Erziehung israelitischer Waisen im Großherzogtum Baden" – stammt aus der Feder von Dr. Josef Eschelbacher, Rabbiner in Bruchsal und später in Berlin. Leider ist nicht bekannt, wer der Hardheimer Empfänger des Briefes war.
Die Verfassung der Gemeinde
Mit der zunehmenden Gleichstellung der jüdischen Bürger erhielten auch die jüdischen Gemeinden Badens ihre rechtliche Struktur.
Schon im sogenannten "Judenedikt" von 1809 wurde als geistliche Oberbehörde für Baden ein "jüdischer Oberrat" mit Sitz in Karlsruhe geschaffen; das Großherzogtum wurde in drei "Provinzsynagogen" unterteilt, denen die Ortssynagogen unterstellt waren. Letztere wurden geführt vom Ortsrabbiner und vom Ortsältesten.
Seit 1833 wurde die Verwaltung der jüdischen Gemeinden von einem auf sechs Jahre gewählten örtlichen Synagogenrat übernommen.
Zu den wichtigsten Aufgaben der Gemeinden gehörte die Organisation des jüdischen Schulwesens; 1876 wurde dann in Baden die konfessionell unabhängige Gemeinschaftsschule eingeführt. Seither wurden Kinder aller Konfessionen nur im Religionsunterricht nicht gemeinsam unterrichtet.
T 4.1a
Das Kriegerdenkmal
Bereits kurz nach ihrer bürgerlichen Gleichstellung im Jahr 1862 hatten die badischen Juden im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 für ihr badisches und ihr deutsches Vaterland gekämpft. Unter den Soldaten aus Hardheim war auch Abraham Strauß, dessen Name sich auf dem heute beim Bahnhof stehenden Kriegerdenkmal verzeichnet findet.
"Als in Hardheim das Denkmal für die Krieger von 1870/71 errichtet wurde, haben wir Buben oft zugeschaut und die Gehilfen bewundert, wie sie aus dem rohen Stein die Konturen herausmeißelten, besonders die vielen kleinen Adler. Die Hauptfigur dieses Denkmals stellt einen auf einem Sockel postierten Krieger dar, der eine Fahne um sich geschlungen hat und eine Trophäe in der Hand hält. Eines seiner Beine war etwas vorgerückt.
Als das Denkmal fertig an seinem Platz stand, drängten sich viele Leute herum und zerbrachen sich den Kopf darüber, was wohl der Krieger darstelle. Sie sagten: »vorstelle«. Als niemand eine befriedigende Antwort gab, platzte Moses Schwarzmann, Inhaber eines Kurz- und Wollwarengeschäftes in Hardheim, mit der tiefsinnigen Bemerkung heraus: »Er stellt das eine Bein vor!«"
(Willi Wertheimer)
T 4.1b
Wahl zum Synagogenrat
Die Wahlen zum Synagogenrat erfolgten jeweils unter Aufsicht von Bürgermeister und Ratschreiber und wurden vom Bezirksamt als Oberbehörde ausgeschrieben und kontrolliert – so auch im nebenstehenden Fall, einem der ältesten Dokumente im Hardheimer Gemeindearchiv zu diesem Thema.
Das Bezirksamt in Walldürn – noch fürstlich-leiningisch – weist hier das Bürgermeisteramt in Hardheim an, für die zurückgetretenen Synagogenratsmitglieder – neben dem Vorsteher Halle werden die Namen Seligmann, Eschelbacher und Schwarzmann genannt – binnen 14 Tagen Neuwahlen durchzuführen und das Wahlprotocoll einzusenden.
Der Leiter der
Gemeinde – Lehrer, Schächter und Rabbiner
Wie in anderen ländlichen Gemeinden waren auch in Hardheim verschiedene Funktionen in der Hand des "Judenlehrers" vereinigt – die geistliche Betreuung der Gemeinde, die Erteilung von Religionsunterricht und das Schächten wurden in Hardheim über viele Jahrzehnte hinweg von Emanuel Wertheimer übernommen.
Wertheimer kam 1884 nach Hardheim; er erhielt für seine Dienste als Vorsänger der jüdischen Gemeinde sowie für die Erteilung des Religionsunterrichts 640 M. Jahresgehalt von der jüdischen Gemeinde, wobei die bürgerliche Gemeinde einen Zuschuß gewährte. Nebenverdienste – vor allem durch das Schächten – wurden mit etwa 100 M. angegeben.
"Man respektierte den Führer der geistigen Gemeinde, und die Schüler mußten gehorchen. Man war auch in der ganzen Gemeinde stolz darauf, daß unsere Schule im ganzen Rabbinatsbezirk Mosbach die besten Prüfungsergebnisse hatte. Da wurden Strafen, die vielleicht nicht nötig gewesen wären, oder zu harte Strafen auch verziehen, es gab kaum Beschwerden gegen die Schulautorität" (Willi Wertheimer).
T 4.2a
Emanuel und Nany Wertheimer – der Vater Willi Wertheimers mit seiner dritten Frau. Der langjährige Lehrer der jüdischen Gemeinde in Hardheim liegt auf dem jüdischen Friedhof in Hardheim begraben.
T 4.2b
Das Lehrergehalt 1922
Emanuel Wertheimer war auch zur Zeit der beginnenden Inflation Lehrer in Hardheim; so bittet er im September 1922 um eine Gehaltserhöhung seitens der Gemeinde:
"Hardheim, 18. Sept. 22
Wohllöbl Gemeinderat Hardheim
Bis heute zahlt die politische Gemeinde an mich für Erteilung des Religionsunterrichtes M. 150. Anläßlich der kolossalen, uferlosen Teuerung u. der Geldentwertung, sowie ursächlich, daß ich als Religionslehrer, nicht wie andere Beamten gehaltlich eingruppiert bin, daher ich ein minderes Einkommen habe u. bitte ich wohll. Gemeinderat, »der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb« obigen Betrag zeitgemäß erhöhen zu wollen. Im Voraus besten Dank
Hochachtend! Em Wertheimer"
Dem Gesuch wird stattgegeben und das Gehalt auf jährlich 2000 M. erhöht.
T 4.2c
Der Gemeindezuschuß
Im Jahr 1913 wehrt sich die jüdische Gemeinde in Hardheim gegen eine Kürzung des Zuschusses zum Religionsunterricht und bringt eine Reihe von Argumenten dagegen vor:
"1) Wie bekannt ist unsere Gemeinde eine sehr kleine, u. stetig an Mitgliedern abnehmende
2) Sie zählt wenig steuerkräftige Familien u. auf nur wenigen Schultern lasten die hohen Kultusumlagen.
3) Nachweislich haben wir einen Jahres Etat von 1400 M.
4) Würde der seitherige Zuschuß von Seite der politischen Gemeinde in Wegfall kommen, so kämen wir in die Lage, unserem Herrn Lehrer, der über 30 Jahre pflichttreu seines Amtes waltete, das so schon schwache Gehalt nicht mehr voll bezahlen zu können.
5. Der Religionsunterricht für jede Konfession ist obligatorisch-staatlich gesetzlicher Faktor u. wesentlicher Teil des Gesamtunterrichtes. Es ist daher ein Akt der Billigkeit u. Rechtlichkeit von Seite der politischen Gemeinde, wenn sie mit einem gedachten Betrag für
den isr. Religionsunterricht partizipiert.
6) Fließen doch alle Gemeindeumlagen unterschiedslos in die Gemeindekasse; u. bei näherer Prüfung erhellt, daß die jüdische Gemeinde – für viele Institutionen in der politischen Gemeinde beitragspflichtig – trotzdem sie von derselben weder moralischen oder sozialkommunalen Nutzen zieht ihr noch niemals eingefallen, deshalb bezügliches Interesse
oder Beihilfe zu entziehen, nicht mitzuwirken für das Ganze.
7. Ferner sei erwähnt, daß die jüdischen Steuerzahler noch heute, u. namentlich früher prozentual einen wesentlichen Steuerfaktor für die Kommunal-Gemeinde-Bedürfnisse präsentieren. (…) Hardheim als von jeher als tolerante, human geltende Gemeinde, wird daher sicherlich keine bez. Ausnahmestellung seinen jüdischen Bürgern gegenüber einnehmen."
(GA Hardheim I A 174)
Hardheim um die Jahrhundertwende
Durch die liberale Politik der Großherzöge Friedrich I. und Friedrich II. wurde in Baden ein Klima geschaffen, das ein gleichberechtigtes und relativ harmonisches Verhältnis von christlicher und jüdischer Bevölkerung begünstigte. Auch in Hardheim scheint die Zeit von 1862 bis zur Jahrhundertwende von einer bis dahin nicht gekannten Toleranz und Akzeptanz der jüdischen Bevölkerung geprägt gewesen zu sein.
Ausdruck dieser Geisteshaltung war eine gewisse Achtung, die sich nicht nur die kirchlichen und jüdischen Würdenträger – beispielsweise anläßlich des Besuchs des Freiburger Weihbischofs in Hardheim im Jahr 1905 -, sondern auch die Gemeindemitglieder gegenseitig zollten. Bei Prozessionen an kirchlichen Feiertagen standen die jüdischen Kinder ehrfurchtsvoll an den Fronten der Häuser und entblößten das Haupt. An einem Sederabend wurde der Sohn des katholischen Hauswirts der Wertheimers eingeladen, die Wertheimerkinder feierten das Weihnachtsfest zusammen mit der Hauswirtsfamilie.
Der enge Kontakt half, Vorurteile gegenüber den religiösen Bräuchen der anderen Glaubensgemeinschaft abzubauen. Zu dieser Zeit war es für die Hardheimer auch selbstverständlich, daß jüdische Kinder die katholische Kinderschule besuchten und dort mit katholischen Bräuchen und Gebeten vertraut wurden.
In den örtlichen Vereinen waren jüdische und christliche Hardheimer vertreten. Man spielte im Wirtshaus Karten, schwatzte miteinander und machte gemeinsame Spaziergänge. Bei Festen des Radfahrer-, Turn- oder Kriegervereins trafen sich christliche und jüdische Mitbürger.
T 4.3a
Der Besuch des Bischofs
"Etwa 1905 kam Seine Hochwürden, der Weihbischof von Freiburg, zur Firmung nach Hardheim. (…) Mein Vater schrieb herzliche Begrüßungsworte der jüdischen Gemeinde mit Versen aus Psalmen und dem Propheten Maleachi in hebräischen Buchstaben. Ein Schild mit diesen Begrüßungsworten wurde über der Straße zwischen dem Schuhgeschäft Strauß (Dilsheimer) und der Werkstätte des Uhrmachers Gärtner aufgehängt. Der Bischof soll sehr gerührt und darüber erfreut gewesen sein. Auch die Einwohner und die vielen auswärtigen Gäste, die zu diesem seltenen Besuch eines solchen Würdenträgers gekommen waren, waren tief beeindruckt von solchen Worten."
(Willi Wertheimer)
T 4.3b
Bei der Feuerwehr
Wie in anderen Vereinen, so waren auch bei der Hardheimer Feuerwehr um die Jahrhundertwende zahlreiche jüdische Mitbürger vertreten; schon zu den Gründungsmitgliedern im Jahr 1863 zählten sechs Juden. Bezogen auf den Bevölkerungsanteil waren die jüdischen Hardheimer in der Feuerwehr sogar überproportional vertreten.
Im Jahr 1903 wurde Moses Strauß ein Ehrenabzeichen für seine 15jährige Dienstzeit verliehen; im Festkomitee für das 50jährige Stiftungsfest im Jahr 1913 war auch Jakob Urspringer vertreten; zu den "Festjungfern" zählten auch Emma Billigheimer (1. Reihe, 2. von links) und Klara Strauß (mittlere Reihe, 5. von links).
Allerdings war es in der Anfangszeit auch zu unschönen Zusammenstößen zwischen Feuerwehr und jüdischen Bürgern gekommen: Im November 1864 weilte der Großherzog Friedrich von Baden in Hardheim und die Feuerwehr hatte zur Begrüßung ein Spalier gebildet, dem Hardheimer Bürger Samuel Billigheimer und seiner Frau aber den Durchgang verwehrt, woraufhin Billigheimer die Feuerwehrleute beschimpfte. Er wurde dafür im Februar 1865 mit einer Haftstrafe von sechs Tagen bestraft.
Die jüdische Gemeinde um die Jahrhundertwende
Seit Ende des 19. Jahrhunderts ging die Mitgliederzahl der Hardheimer Gemeinde stetig zurück. Dennoch plante man zeitweise sogar einen Synagogenneubau, sah jedoch dann wieder davon ab.
Die jüdischen Kinder wurden ebenso wie ihre christlichen Altersgenossen in patriotischem Geist erzogen. Man fühlte sich als deutscher Staatsbürger jüdischer Religion. Militärische Spiele und das Singen patriotischer Lieder waren üblich. Die häufig in der Region durchgeführten Manöver begeisterten die jüdische und christliche Jugend gleichermaßen und stachelten ihren patriotischen Stolz an.
T 4.4a
Patriotismus im Kaiserreich
"Von früher Jugend auf wurden wir in Schule und Elternhaus patriotisch erzogen. Wir spielten »Soldaterlis«. Soweit wir Geld hatten, kauften wir uns bei Greulich oder sonstwo Uniformstücke, Säbel, Helme der verschiedensten Waffengattungen, Koppel mit den dazugehörigen Trotteln und auch kleine Gewehrchen zum Schießen mit Pulverkapseln (…). Da exerzierten wir nun, sangen patriotische Lieder und spielten auch Krieg. (…)
Alle vier Jahre, während des Divisionsmanövers, stand der Schloßplatz auch im Mittelpunkt des Geschehens. Da gaben Militärkapellen auf dem Schloßplatz oder am »Badischen Hof« Konzerte. (…) Wenn dann am Nachmittag die Soldaten einrückten, war alles auf den Beinen, und wir Jugendlichen waren stolz auf unsere Soldaten. Besonders interessierten mich die fahrenden und berittenen Truppen wie Kavallerie und Artillerie. Bei den Konzerten waren wir natürlich mit dabei; die Märsche steigerten unseren Patriotismus bis zur Gluthitze."
(Willi Wertheimer)
T 4.4b
Kinder des katholischen Kindergartens in Hardheim; 1902
Willi Wertheimer ist auf diesem Bild das zweite Kind rechts neben der Schwester: "Noch bevor ich in die Volksschule kam, hatte ich die katholische Kinderschule besucht. Außer mir waren da noch zwei weitere jüdische Kinder, Ludwig Strauß und seine Schwester Johanna. Wir jüdischen Kinder waren in der Kinderschule sehr gern gesehen, die Schwestern lobten uns, da wir das »Vater unser« so schön sagen konnten. Ludwig und ein weiterer jüdischer Mitschüler, Alfred Eschelbacher, waren dann mit mir in derselben Volksschulklasse."
(Willi Wertheimer)
T 4.4c
Schulkinder des Jahrgangs 1892/93 in Hardheim; um 1900
Christliche und jüdische Schulkinder besuchten zusammen die Hardheimer Volksschule; nur der Religionsunterricht wurde getrennt erteilt. Und so finden sich auch auf allen Klassenbildern aus dieser Zeit jüdische Kinder – hier Oskar Eschelbacher (vordere Reihe, 2. von links), Anselm Wertheimer (Bruder von Willi Wertheimer und im Ersten Weltkrieg gefallen; in der hinteren Reihe der dritte rechts neben Lehrer Henn) und Josef Strauß (rechts neben Anselm Wertheimer).
Am Anfang des 20. Jahrhunderts
Der Erste Weltkrieg
"Wir waren natürlich sehr stolz darauf, endlich die Uniform tragen und das Vaterland verteidigen zu dürfen, das wir doch so liebten. Wir waren sogar bereit, für dieses zu sterben."
(Willi Wertheimer)
Die nationale Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges machte auch vor den jüdischen Bürgern nicht halt; sie waren Deutsche jüdischen Glaubens, die als Patrioten Seite an Seite mit ihren christlichen Kriegskameraden für ihre Heimat kämpften und starben. Zwei Hardheimer jüdischen Glaubens ließen ihr Leben in diesem Krieg – Wolf Adolf Israel und Anselm Wertheimer. Noch 1935 findet sich als Inschrift auf dem Grab von Julius Billigheimer der stolze Satz: "Er zog als Soldat in den Krieg."
Dennoch zeigte sich gerade in diesem Krieg, daß die völlige Gleichstellung noch nicht erreicht war – Juden fanden sich nur in Ausnahmefällen im Offizierskorps, und bei der Verpflegung wurde keine Rücksicht auf die jüdischen Ernährungsregeln genommen. Eine jüdische Vereinigung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Soldaten jüdischen Glaubens mit koscheren Konserven zu versorgen, was jedoch nur in der Etappe funktionierte.
T 4.5a
Die Hardheimer Familie Wertheimer im Krieg
Fünf Söhne des Lehrers der jüdischen Gemeinde in Hardheim, Emanuel Wertheimer, standen im Ersten Weltkrieg im Feld: Julius Wertheimer (oben links), Dr. Felix Wertheimer (oben rechts), Anselm Wertheimer, Issi Wertheimer und Willi Wertheimer (unten von links nach rechts).
Anselm Wertheimer fiel am 31. März 1918; die anderen Brüder Willi Wertheimers – Julius, Felix und Issi – wurden von den Nationalsozialisten ermordet.
"Der Dank des Vaterlands soll nicht vergessen werden, der uns gewiß war. – Es war aber von vornherein gut, nicht auf ihn zu warten, denn er erreichte uns nicht. Als man sich später der Juden in Deutschland erinnerte, da war es alles andere als Dank."
(Willi Wertheimer)
Soldatenpost
Ausdruck einer gewissen Gleichstellung und Solidarität aller Deutschen, gleich welchen Glaubens, waren die sogenannten "Liebesgaben" – Pakete mit Süßigkeiten, Zigaretten u.ä., die von den örtlichen Komitees des Roten Kreuzes während des Ersten Weltkriegs ausnahmslos an die im Feld stehenden Soldaten verschickt wurden.
Die Dankesbriefe der an der Front kämpfenden Hardheimer Juden – dies waren neben den Brüdern Julius, Felix, Issi, Willi und Anselm Wertheimer unter anderem Samuel Halle und Abraham Rosenthal – an das Bürgermeisteramt in Hardheim sind Zeugnisse eines glühenden Patriotismus.
So schreibt Anselm Wertheimer im November 1914: "Ich werde bis zum letzten Atemzug tapfer kämpfen für Fürst und Vaterland. Unser Losungswort heißt: Sterben oder Sieg!"
Anselm Wertheimer fiel am 31. März 1918.
T 4.6a
Brief von Anselm Wertheimer; 1. November 1914
Nebenstehenden Dankesbrief schrieb Anselm Wertheimer auf dem Briefpapier eines französischen Arztes an das "Verehrliche Bürgermeisteramt Hardheim":
"Hiermit bestätige Ihnen bestens dankend, den Empfang Ihres lb. Paketchen. Ich freute mich besonders sehr damit, daß die liebe Heimatgemeinde bei solch ernsten Zeiten auch an seine treuen und tapferen Krieger dachte. Gott sei Dank bin noch gesund und wohlauf munter, obgleich schon seit Beginn des Krieges im Felde bin.
Die Süßigkeit lasse mir gut schmecken, und die Ciggaretten werde mich besonderen Andacht rauchen.
Hoffentlich kommt die Zeit bald, wo mich hierfür erkenntlich zeigen kann.
Dessen ungeachtet werde bis zum letzten Atemzug tapfer kämpfen für Fürst und Vaterland. Unser Losungswort heißt: »Sterben oder Sieg!«
Da es hier an Schreibmaterial mangelt, wollen Sie bitte meine Schreibart entschuldigen.
Mit besonderer Hochachtung grüßt Sie, sowie die liebe Gemeinde Hardheim recht herzlichst auf baldiges Wiedersehen
Anselm Wertheimer
zur Zeit im Felde
Kan. Wertheimer
3. bad. Feldart. Regt. 50.
II. Abteilung Stab"
In den zwanziger Jahren
Schon in der Frühphase der Weimarer Republik wurde von deutsch-völkischen Gruppierungen sowie von der am 5. Januar 1919 gegründeten NSDAP eine gezielte Propaganda gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands betrieben. Mit absurden Argumenten wurde versucht, die Juden für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verantwortlich zu machen.
Deutlicher Ausdruck des scharfen, irrationalen Antisemitismus, der die Basis der nationalsozialistischen Doktrin bildete, war das 25-Punkte-Partei-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920, in dem unter anderem die Verweigerung der Staatsbürgerschaft für Juden sowie eine Gesetzgebung und Kulturpolitik nach Rassekriterien gefordert wurden.
Noch vor dem Regierungsantritt Hitlers kam es zu Friedhofsschändungen, judenfeindlichen Kundgebungen und brutalen Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger, die von der Bevölkerung jedoch nicht sonderlich ernst genommen wurden.
Mitte der zwanziger Jahre nahmen auch in Hardheim und Umgebung die antisemitischen Strömungen zu. Zeitzeugen berichten von einer anwachsenden Ausgrenzung und von Pöbeleien gegenüber der jüdischen Bevölkerung sowie von der Verbreitung antisemitischer Lügen, die einen latent vorhandenen Judenhaß schürten.
T 4.7a
Erinnerungen an die zwanziger Jahre
Willi Wertheimer war Anfang der zwanziger Jahre zunächst Lehrer in Eubigheim; er erinnert sich:
"Ebenfalls bei Frau Samstag ließ sich damals ein Arzt nieder, ein ehemaliger Offizier aus dem Weltkrieg. Er war ledig und kam aus Norddeutschland, auch seine Eltern wohnten einige Zeit in Eubigheim. Sein Vater war ein pensionierter Lehrer von echt preußischer Gesinnung. Mit ihm zog der Wind aus einer neuen Richtung in unseren stillen Ort ein. Er gründete einen Schützenverein in Eubigheim, wie sie zu dieser Zeit überall entstanden. In diesen Versammlungen konnte man aus Herzenslust auf die Reaktion und die Herren, die den Krieg verloren hatten, schimpfen. Das Getriebe in diesem Verein warf schon seine Schatten voraus auf das, was kommen sollte (…).
Bald verschwanden die demokratischen Ideale in diesem Verein, und der große Teil der christlichen Kameraden wurde Anhänger des größten Verbrechers aller Zeiten (…). Judenhaß steckte aber latent in den Köpfen vieler Bürger. Durch Erziehung und Vererbung schlummerte der Antisemitismus in vielen. Wir Juden bekamen das eigentlich immer wieder zu spüren. Im Heer, unter Kollegen, im Verkehr mit Beamten mußten wir immer wieder feststellen, daß wir oft zur Zielscheibe von plumpen und auch oft gemeinem Spott wurden. Der »Führer« brauchte nur die schlummernden Triebe zu wecken, schnell wurden sie zur lodernden Flamme."
(Willi Wertheimer)
Das nationalsozialistische Programm
Hitlers "Mein Kampf" hatte schon Mitte der zwanziger Jahre keinen Zweifel daran gelassen, daß der nationalsozialistischen Doktrin ein irrationaler Rassenwahn zugrundelag.
Der NS-Ideologie zufolge gab es höher- und minderwertigere Rassen, die einander einen unerbittlichen Kampf um das Überleben lieferten. Die Deutschen waren das vermeintlich auserwählte Herrenvolk, von Natur aus prädestiniert, die Weltherrschaft zu erlangen. Als sogenannte "arische Rasse" verkörperten die Deutschen für Hitler das Wertvolle und Gute.
Als Feind und Inkarnation alles Bösen diffamierte er die "jüdische Rasse". Sie habe die Absicht, die "arische Rasse" zu zersetzen sowie die Welt politisch und wirtschaftlich zu beherrschen. Daß es objektiv gesehen weder eine "arische" noch eine "jüdische Rasse" gab noch je geben konnte, interessierte Hitler nicht.
Die "Juden" wurden so zum Inbegriff all dessen, was Hitler und seine Anhänger ablehnten. Daneben wurden auch die slawischen Völker Osteuropas, Zigeuner, psychisch Kranke und Homosexuelle zu "minderwertigem" oder gar "unwertem" Leben degradiert.
Nach 1933 bot sich dem pseudowissenschaftlichen Rassenwahn der Nationalsozialisten die Möglichkeit zu hemmungsloser Entfaltung. Die Folgen waren der Genozid an den europäischen Juden, die Massenvernichtung und Versklavung der Bevölkerung des eroberten osteuropäischen Raumes und die zur "Reinhaltung der Rasse" ergriffenen eugenischen Maßnahmen wie Euthanasie und Zwangssterilisationen bzw. -kastrationen.
T 5.1a
Die Quellen der nationalsozialistischen Rassentheorie
Religiös, wirtschaftlich und sozial motivierter Rassismus und Antisemitismus hatten in Europa eine tief verwurzelte Tradition. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen sie – beeinflußt durch einen falsch verstandenen Sozialdarwinismus und eine scheinbar naturwissenschaftlich fundierte Anthropologie – eine neue Qualität.
Von der Verschiedenartigkeit der Menschen wurde nun immer häufiger auf eine Höher- oder Minderwertigkeit der "Rassen" geschlossen. Schriftsteller wie der Franzose Gobineau und der Engländer H.S. Chamberlain propagierten die Überlegenheit der "weißen Rasse" und verbreiteten antijüdisches und rassistisches Gedankengut. Hitlers Antisemitismus wurde unter anderem durch den Begründer des Alldeutschen Verbands, Georg Ritter von Schönerer, und den christlich-sozialen Bürgermeister von Wien, Karl Lueger, geprägt.
Die judenfeindlichen und rassistischen Traditionen, die im 20. Jahrhundert in der nationalsozialistischen Rassentheorie kulminierten, hatten in allen gesellschaftlichen Schichten der deutschen Bevölkerung weite Verbreitung gefunden.
T 5.1b
Anordnung der Parteileitung der NSDAP vom 28. März 1933
"1. In jeder Ortsgruppe und Organisationsgliederung der NSDAP sind sofort Aktionskomitees zu bilden zur praktischen, planmäßigen Durchführung des Boykotts jüdischer Geschäfte, jüdischer Waren, jüdischer Ärzte und jüdischer Rechtsanwälte. Die Aktionskomitees sind
erantwortlich dafür, daß der Boykott keinen Unschuldigen, um so härter aber die Schuldigen trifft.
(…)
3. Die Aktionskomitees haben sofort durch Propaganda und Aufklärung den Boykott zu popularisieren. Grundsatz: Kein Deutscher kauft noch bei einem Juden oder läßt von ihm und seinen Hintermännern Waren anpreisen. Der Boykott muß ein allgemeiner sein. Er wird vom ganzen Volk getragen und muß das Judentum an seiner empfindlichsten Stelle treffen.
(…)
7. Die Aktionskomitees müssen bis in das kleinste Bauerndorf hinein vorgetrieben werden, um besonders auf dem flachen Lande die jüdischen Händler zu treffen. Grundsätzlich ist immer zu betonen, daß es sich um eine uns aufgezwungene Abwehrmaßnahme handelt.
8. Der Boykott setzt nicht verzettelt ein, sondern schlagartig; in dem Sinne sind augenblicklich alle Vorarbeiten zu treffen. Es ergehen Anordnungen an die SA und SS, um vom Augenblick des Boykotts ab durch Posten die Bevölkerung vor dem Betreten der jüdischen Geschäfte zu warnen. Der Boykottbeginn ist durch Plakatanschlag und durch die Presse, durch Flugblätter usw. bekanntzugeben. Der Boykott setzt schlagartig Samstag, den 1. April, Punkt 10 Uhr vormittags ein. Er wird fortgesetzt so lange, bis nicht eine Anordnung der Parteileitung die Aufhebung befiehlt."
T 5.1c
Etappen
Die konsequente Umsetzung des antisemitischen Programms der NSDAP wird in verschiedenen Etappen deutlich: von den ersten Aktionen im März 1933 über die wirtschaftliche "Ausschaltung" der jüdischen Geschäftsleute – ein spätes Dokument stellt der Brief an zwei Hardheimer Metzger im Jahr 1937 dar (unten links) – bis hin zur Zeit der Verfolgung; in der Sorge des Landrats um die Zimmerpflanzen in den Häusern der nach Gurs deportierten Juden kommt die Unmenschlichkeit der Lehre vom minderwertigen Leben zum Ausdruck (Rundschreiben des Landrats vom 2. Dezember 1940; GA Hardheim A 471)
Die ersten Jahre des nationalsozialistischen Terrors
Im Jahr der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler lebten noch 55 Juden in Hardheim, die den alteingesessenen Hardheimer Familien Billigheimer, Halle, Rosenthal, Schwarzmann, Selig, Simon, Sinsheimer, Strauß und Urspringer angehörten.
Die Situation der deutschen Juden änderte sich jetzt grundlegend. Der Reichstagsbrand wurde von den Nazis zum Anlaß genommen, die wichtigsten Grundrechte außer Kraft zu setzen, das vier Wochen später diktierte "Ermächtigungsgesetz" erlaubte der Regierung, ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze zu erlassen. Hiermit waren die Voraussetzungen für die Ausschaltung der politischen Gegner sowie für die antijüdische Gesetzgebung geschaffen worden.
Bereits im März 1933 errichteten die Nationalsozialisten die ersten Konzentrationslager. Nun wurden die politischen Gegner des Regimes im KZ Dachau sowie in den Lagern Oranienburg und Columbia-Gefängnis in "Schutzhaft" genommen. In Nordbaden entstand das KZ Kislau.
Mitte März 1933 kam es in ganz Deutschland zu Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger, am 1. April wurde von den Nationalsozialisten zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Außerdem wurden für "nicht-arische" Mitbürger gesetzliche Einschränkungen betreffs der Berufsausübung erlassen. Von nun an wurden die Deutschen jüdischen Glaubens systematisch aus dem öffentlichen Leben verdrängt.
T 5.2a
Die Sorge um den schönen Schein
Schon seit Beginn des Terrors gegen die Juden sorgten sich Staatsspitze und Parteileitung immer wieder darum, daß das Ansehen Deutschlands im Ausland Schaden erleiden könnte.
Schon die ersten Aktionen im Jahr 1933 sollten von entsprechenden Maßnahmen begleitet werden – "jeder Deutsche, der irgendwie Verbindung zum Ausland besitzt, (soll) in Briefen, Telegrammen und Telephonaten aufklärend die Wahrheit verbreiten, daß in Deutschland Ruhe und Ordnung herrscht, daß das deutsche Volk (…) den Kampf gegen die jüdische Greuelhetze nur führt als reinen Abwehrkampf" (Anordnung der Parteileitung der NSDAP vom 28. März 1933).
Ähnlich trug sich im Olympiajahr 1936 das badische Innenministerium mit der Sorge, judenfeindliche Tafeln könnten teilweise "wenig geschmackvoll" sein; es solle berücksichtigt werden, "daß die in Deutschland reisenden Ausländer unsere Maßnahmen gegen die Juden aufmerksam verfolgen."
T 5.2b
Der Fall David Berwanger
David Berwanger hat die Behörden bis zu seinem Tode 1939 immer wieder beschäftigt: der seit 1908 in Hardheim lebende Jude war staatenlos.
Berwanger war ein Neffe von Jeanette Hanft, die zusammen mit ihrem Mann eine koschere Speisegaststätte führte; nach ihrem Tod 1932 lebte Berwanger weiterhin bei seiner Cousine Selma Hanft.
Vor 1908 hatte David Berwanger offensichtlich in den USA gelebt – ob er die dortige Staatsbürgerschaft erworben und sich 1936 mit der Bitte um entsprechende Papiere an das amerikanische Konsulat in Stuttgart gewandt hatte, bleibt ungewiß.
Im Januar 1939 verstarb Berwanger im Alter von 81 Jahren und wurde als letzter auf dem jüdischen Friedhof von Hardheim beerdigt.
Die Nürnberger Gesetze
Durch die Nürnberger Rassegesetze wurden die deutschen Juden juristisch zu "Menschen zweiter Klasse" degradiert. Das "Reichsbürgergesetz" entzog ihnen ihre politischen Rechte, das "Blutschutzgesetz" verbot Eheschließungen und außereheliche Beziehungen zwischen Juden und "Ariern". Auf der Grundlage einer pseudowissenschaftlichen Rassentheorie wurde somit die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung per Gesetz legitimiert.
Zur Durchführung der Rassegesetze wurden von den Gemeinden "Judenkarteien" angelegt, mittels derer alle jüdischen Mitbürger erfaßt werden sollten. Hiermit wurde die Voraussetzung für den Zugriff der Nationalsozialisten auf jeden einzelnen Juden in Deutschland geschaffen. Auch in der Gemeinde Hardheim wurde eine Judenkartei angelegt, die sämtliche Ab- und Zuwanderungen erfaßte und regelmäßig aktualisiert wurde. Selbst jüdische Besucher, die nur vorübergehend in Hardheim weilten, wurden registriert.
Mit Rücksicht auf das Ausland versuchte die Regierung, Aktionen gegen Juden die vulgäre Spitze zu nehmen. Man glaubte zwar, daß das Ausland die Rassegesetze grundsätzlich begrüßte, wollte aber "allzu geschmacklose" Auswüchse des staatlich legitimierten Antisemitismus unterbinden. Man war besorgt, daß sich "Arier" durch "primitiven Judenhaß" bloßstellen könnten. Ziel war eine geregelte, "saubere" und kontrollierte Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Leben.
T 5.3b
Karte der Hardheimer "Judenkartei"; 1935
Als Konsequenz aus den Nürnberger Gesetzen wurden auch in Hardheim alle hier lebenden jüdischen Bürger in einer eigenen Kartei erfaßt; leider hat sich im Gemeindearchiv nur eine unausgefüllte Karte der "Judenkartei" erhalten.
(GA Hardheim I A 469)
T 5.3c
Kennkarten der Frieda Fröhlich, geb. Neuberger; 1939
Ein Beispiel aus der "Judenkartei" im Gemeindearchiv Sennfeld – die 1888 geborene Frieda Neuberger heiratet am 23. März 1939 Leopold Fröhlich, den Mann ihrer verstorbenen Schwester; während Leopold Fröhlich bald darauf die Auswanderung nach England gelingt, scheitert die Emigration von Frieda Fröhlich; sie wird am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, zwei Jahre später nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.
(Gedenkstätte ehemalige Synagoge Sennfeld / Reinhart Lochmann)
T 5.3a
Aus dem Gesetz "zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom 15. September 1935
"Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird.
§ 1
1. Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Auslande geschlossen sind.
2. Die Nichtigkeitsklage kann nur der Staatsanwalt erheben.
§ 2
Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.
§ 3
Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren nicht in ihrem Haushalt beschäftigen.
§ 4
1. Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten.
2. Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdischen Farben gestattet. Die Ausübung dieser Befugnis steht unter staatlichem Schutz.
§ 5
1. Wer dem Verbot des § 1 zuwiderhandelt, wird mit Zuchthaus bestraft.
2. Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft.
3. Wer den Bestimmungen der §§ 3 oder 4 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft.
§ 6
Der Reichsminister des Innern erläßt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers und dem Reichsminister der Justiz die zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften."
1935 – 1940
Die Rassegesetze von 1935 bewirkten eine ins Unerträgliche wachsende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Ihre Geschäfte wurden boykottiert, "Arier", die mit Juden berufliche oder private Kontakte pflegten, wurden diffamiert. Rufmordkampagnen waren in der Presse an der Tagesordnung.
Schon vor dem Novemberpogrom war die "Zwangsarisierung" jüdischer Betriebe und jüdischen Grundbesitzes eingeleitet worden, im Dezember 1938 wurde "Nicht-Ariern" die freie Verfügungsgewalt über ihr gesamtes Eigentum entzogen. Damit sollten die Juden aus der deutschen Wirtschaft ausgeschaltet werden.
In Hardheim wurde die "Arisierung" des jüdischen Eigentums schon im Sommer 1938 betrieben. "Arische" Hardheimer konnten nun jüdischen Besitz – Geschäfte, Betriebe, Grundstücke etc. -, teilweise auch unter Wert, aufkaufen. Auf diese Weise wurden die jüdischen Geschäftsleute ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt; sie mußten ihren Lebensunterhalt als Hilfs- bzw. Zwangsarbeiter verdienen. Vor allem Frauen waren auf die finanzielle Unterstützung jüdischer Verbände, denen jedoch ebenfalls die Mittel entzogen worden waren, angewiesen.
Mit Kriegsbeginn wurden auch in Hardheim Ausgangsverbote erlassen, Juden mußten ihre Radiogeräte abliefern und durften nun nur noch in bestimmten Geschäften einkaufen; Hausdurchsuchungen sowie willkürliche Verhaftungen aufgrund von Denunziationen wurden üblich.
T 5.4a
Auszug aus dem israelitischen Familienregister
Im Zusammenhang mit der "Kennzeichnungspflicht" – Juden wurden verpflichtet, Abzeichen mit dem Davidstern zu tragen – mußten Juden mit "christlichen" Vornamen als zweiten Namen "Sara" bzw. "Israel" annehmen – so auch in diesem Fall Babette Eschelbacher am 27. Dezember 1938.
T 5.4b
Willi Wertheimer und seine Religionsschüler im Jahr 1936 – aus den jüdischen Gemeinden Buchen, Hainstadt, Walldürn und Hardheim sind nur noch 12 Schüler übrig geblieben. Aus Hardheim stammen Manfred Billigheimer (vorne ganz links) und Liese Strauß (vorne 3. von links), rechts neben ihr Ruth Wertheimer.
T 5.4c
Erlaß zur Arisierung mit handschriftlichem Vermerk der Bürgermeisteramts Hardheim vom 15. Oktober 1938 ("Eingetragen sind: 1.) Fa. Selig Moses, Inh. Abraham Selig u. Max Selig 2.) Julius Sinsheimer").
(GA Hardheim I A 469)
Die "Reichskristallnacht" – eine Mauer des Schweigens
Zu den düstersten Kapiteln der deutschen Geschichte gehört das zynisch als "Reichskristallnacht" bezeichnete Novemberpogrom, das eine neue Phase der Judenverfolgung einleitete. Zwischen dem 9. und 10. November 1938 wurden jüdische Friedhöfe, Synagogen, Wohn- und Geschäftshäuser verwüstet und zerstört, jüdische Bürger mißhandelt und ermordet. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslagern in "Schutzhaft" genommen. Darüber hinaus legte der Reichstag den Opfern eine Sondersteuer (1 Mrd. RM) für die von den Nationalsozialisten verursachten Schäden auf.
Auch in Hardheim kam es in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zu Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger, bei denen Samuel Halle und Abraham Selig zusammen mit anderen, namentlich nicht genannten Juden "abtransportiert" wurden. Auch die Synagoge der Gemeinde wurde bei den Aktionen beschädigt und der Betsaal verwüstet.
Bei der Suche nach Zeitzeugen stößt man selbst heute häufig noch auf eine Mauer des Schweigens.
T 5.5a
Eine Polizeimeldung
"Meldung des Gendarmerie-Meisters der Gendarmerie-Station Hardheim an das Bezirksamt Buchen vom 13. November 1938 Nr. 590 betr. Festnahme des Abraham Selig und acht anderer von Hardheim wegen Vergehens gegen die VO zum Schutz von Volk und Staat.
Im Auftrag der Geheimen Staatspolizei (Außendienststelle Mosbach) vom 10.11.1938 wurden am 10.11.1938 in der Gemeinde Hardheim 9 Juden festgenommen und nach Mosbach transportiert.
Laut Anordnung wurden zur Erledigung des Auftrags 3 SS-Männer zugezogen, sämtliche von Höpfingen und daselbst wohnhaft.
Ich bitte den 3 SS-Männern, die von mir zur Unterstützung zugezogen waren und für Verpflegung Auslagen hatten, außerdem ihr Tagelohn ausgefallen ist, eine entsprechende Vergütung zu gewähren."
T 5.5b
Direkt nach den Aktionen am 9./10. November mußten die Juden alle Waffen abliefern – darunter sogar Küchen- und Taschenmesser sowie die Schächtmesser der Metzgerei Simon.
(GA Hardheim I A 469)
T 5.5c
Die "Reichskristallnacht" läutete eine neue Phase der Judenverfolgung ein, an deren Ende die "Endlösung" stand.
Am Beispiel der Familie Wertheimer wird das Ausmaß des Schreckens deutlich; Willi Wertheimer schreibt zu diesem Bild: "Das sind die Kinder des g’ttergebenen Lehrers Emanuel Wertheimer (…) 1. Reihe von links nach rechts Lenchen Wertheimer, Auschwitz, Issi Wertheimer mit 2 Kindern und Frau, Auschwitz, Dr. Felix Wertheimer, Sobibor, (X) Selbst gerettet mit Frau und Kind (…), Berta geb. Wertheimer mit Mann Moritz u. zwei Kinder, Theresienstadt u. / im Osten. 2. Reihe. Julius Wertheimer u. Frau u. Sohn, Riga, Erich u. Dina geb. Wertheimer mit Frau und Tochter, Leo u. Ilse geb. Wertheimer de Jong mit 4 Kindern Auschwitz (…)"
Emigration
Der braune Terror zwang immer mehr deutsche Juden zum Verlassen ihrer Heimat. Zunächst wurde die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung von den Nationalsozialisten begrüßt, da sie als "Beitrag zur Lösung der Judenfrage" angesehen wurde. Die deutschen Juden wurden ins Ausland abgeschoben, nachdem man ihnen vorher durch die "Fluchtsteuer", erpreßte Abgaben sowie Auslandsspenden das für die Einwanderung notwendige Geld genommen hatte.
1938 und 1939 erreichte der Exodus der deutschen Juden seinen Höhepunkt. Nun weigerten sich jedoch immer mehr Länder, jüdische Einwanderer, welche die für die Einwanderung erforderlichen Devisen aufgrund der vorher erfolgten Ausplünderung immer seltener aufbringen konnten, aufzunehmen. So konnten oft nur Juden, die schon Angehörige in den USA hatten, in die Staaten auswandern.
Einem Großteil der Hardheimer Juden gelang bis 1939 die Flucht. Die Emigranten gehörten meist der jüngeren, nach 1900 geborenen Generation an, standen aktiv im Berufsleben und hatten eine zu versorgende Familie. Die vor der Jahrhundertwende geborenen Emigranten flohen meist zusammen mit ihren in Hardheim noch ansässigen Kindern und Enkeln.
Nach dem Novemberpogrom wurden die Reisepässe der jüdischen Bevölkerung eingezogen. Von den in Hardheim verbleibenden Juden gelang es nun nur noch wenigen, der zwei Jahre später eingeleiteten Deportation zu entkommen.
T 5.6a
Hürden
Die Hardheimer Juden, die ihre Heimat verlassen wollten, mußten oft Monate warten, bis ihnen die erforderlichen Papiere zugestellt wurden; bis zum Termin der Auswanderung vergingen dann weitere, quälende Wochen.
Das Aufbringen der erforderlichen finanziellen Mittel wurde für viele zur schier unüberwindlichen Schwierigkeit. Allein der Paß kostete 50 RM, die Überfahrt pro Person fast 400 Dollar, für das Umzugsgut mußten oft weitere horrende Summen bezahlt werden.
T 5.6b
Flucht vor dem Verbrechen
"Auch für mich wurde es immer brenzlicher. (…) Ich selbst hatte keine Verwandten in den USA, aber meine Frau. So schrieb ich dahin Brandbriefe, um für die Auswanderung dorthin die erforderlichen Affidavits zu besorgen, Man regte sich über meine Briefe auf, es dauerte lange, bis die Papiere kamen, aber sie kamen noch kurz vor Torschluß. (…)
Das Packen des Umzugsgutes mußte ein Beamter beaufsichtigen, denn es war uns vorgeschrieben, was wir mitnehmen durften und was nicht. Dieser Beamte (…) war mir aber wohlgesinnt und ließ uns gewähren, so daß wir einiges mitnehmen konnten, was nicht auf der Liste stand. Er machte hernach mit den Packern im »Gasthof zum Löwen« eine Zeche von 100 Mark, die ich aber gern bezahlte. Ob er selber auch etwas genommen hat, weiß ich nicht, es war aber gut, daß es solche Männer gab, sonst wären viele von uns mittellos in den Ländern angekommen, die uns aufnahmen."
(Willi Wertheimer)
T 5.6
Bei jeder Auswanderung – wie hier im Fall von Alfred Katz, der kaufmännischer Angestellter bei der Firma Selig war und nach Amerika auswandern wollte – wurde eine Meldung an das Finanzamt in Buchen gemacht, um "Steuer- oder Kapitalflucht" zu verhüten.
(GA Hardheim I A 469)
Deportation nach Gurs
In Hardheim waren bis zum Herbst 1940 nur noch 17, meist vor 1900 geborene Juden zurück geblieben. Teilweise hatten sie durch fehlenden Familienanschluß keine Chance zur Auswanderung erhalten, teilweise blieben sie freiwillig vor Ort, weil sie sich nicht vorstellen konnten, zu welchen Greueltaten ihre Mitbürger fähig sein würden.
In den Akten im Gemeindearchiv finden wir für den 22. Oktober 1940 folgende Notiz: "Am 22.10.40 wurden sämtliche 17 noch vorhandene Juden von der geheimen Staatspolizei mittels Auto mit unbekanntem Ziel abtransportiert, die Wohnungen polizeilich geschlossen. 100 RM an Geld nur 50 kg Gepäck durften mitgenommen werden."
Bis heute wird erzählt, daß noch kurz vor der Abfahrt des Busses die schon auf das Dach gepackten Koffer wieder herunter geworfen worden seien; einer der Deportierten – Sigmund Simon – trug als Kriegsveteran ein Tapferkeitsabzeichen an seiner Jacke. Es hat ihn nicht gerettet – er fand im Januar 1942 in Gurs den Tod.
Mit Stolz wurde nach dieser zynisch als "Evakuierung" der jüdischen Bevölkerung bezeichneten Aktion gemeldet, daß Baden als erster Gau "judenfrei" war.
Von den nach Gurs (Südfrankreich) deportierten Hardheimer Juden überlebten nur fünf. Ihnen gelang es, mit Hilfe der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" von ihrer Heimatgemeinde ihre Papiere – nun wußte man in Hardheim, wohin man die ehemaligen Mitbürger gebracht hatte – zu erlangen, so daß sie zu ihren Verwandten in die USA auswandern konnten. Diejenigen, denen die Auswanderung verwehrt war, sind zum Teil dort verstorben oder wurden im Sommer und Herbst 1942 in die Vernichtungslager im Osten deportiert. Nur wenige haben in Gurs überlebt.
T 5.7a
Das Lager Gurs
Die Lebensbedingungen im Lager Gurs waren katastrophal: "Durch das schadhafte Dach (der Baracken) lief unaufhörlich Regen. (…) Fenster hatten die Baracken keine, sondern nur hölzerne Klappen. So hatte man nun die Wahl, ob man die Klappen schloß und im Dunkeln war, oder sie öffnete, und Kälte und Regen damit hereinließ. (…) Die Baracke war leer. Kein Stuhl, kein Tisch, nichts Bettähnliches. Die ersten Nächte mußten wir einfach auf dem Holzfußboden schlafen." (Paul Sauer, Die Schicksale jüdischer Bürger Baden-Württembergs, S. 427).
Für Alte und Kranke (etwa 60 % der Deportierten hatten das 60. Lebensjahr überschritten) war das Lager ein Martyrium. Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse sowie mangelhafte Ernährung entkräfteten die Deportierten. Epidemisch sich verbreitende Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Hirnhautentzündungen waren an der Tagesordnung, viele starben an Entkräftung und Herzschwäche – so auch die Hardheimer Julius und Ida Sinsheimer, die über ihre bereits in den USA lebenden Kinder nach Amerika hätten kommen können, wenn die Ausweispapiere rechtzeitig zugestellt worden wären. Henriette Israel, die 1941 Gurs verlassen konnte, starb auf der Reise in die Freiheit an Schwäche.
T 5.7c
Auswanderungsversuche
Aus dem Lager Gurs in Südwestfrankreich erreichten nach der Deportation einige Gesuche um Auswanderungspapiere das Bürgermeisteramt Hardheim.
So schreibt Selma Hanft am 18. Februar 1941: "Zum Zwecke meiner Auswanderung benötige ich ein Geburtszeugnis. (…) Falls es möglich ist, mir einen Paß zu übersenden, wäre ich dafür dankbar."
Schon vier Wochen später gehen die erwünschte Geburtsurkunde, ein Leumundszeugnis sowie ein Paßantrag an eine Adresse in Karlsruhe mit der Bitte um Weiterleitung – der Brief von Selma Hanft hatte Hardheim durch Vermittlung der Israelitischen Fürsorge in Basel erreicht.
Es ist unbekannt, ob die Papiere ihren Weg nach Gurs gefunden haben – Selma Hanft scheint dort verstorben zu sein; am 31. Dezember 1945 wurde sie für tot erklärt.
Ähnlich verlief der Antrag der Familie Sinsheimer: sie baten durch die Vermittlung von Max Israel Ehrlich aus Bamberg am 12. Mai 1941 um die erforderlichen Papiere; für den 20. Mai besaßen sie bereits eine feste Dampferpassage ab Lissabon. Julius Sinsheimer starb in Gurs am 30. November 1941, seine Frau Ida schon am 8. November 1941, 22 Tage vor ihrem Ehemann. Berta und Regine Sinsheimer überlebten den Holocaust in Gurs.
Enteignungen
Nach der Deportation der badischen Juden erging vom Landrat des Kreises Buchen der Erlaß, den gesamten Grundbesitz der jüdischen Bevölkerung genau zu erfassen. In den folgenden Wochen wurde darüber hinaus das Vermögen – Bargeld, Konten und Depots – der deportierten Hardheimer Juden beschlagnahmt, die gesamte Fahrnishabe – das in den jüdischen Wohnungen befindliche Mobiliar, Geld, Kleidung und Wertgegenstände, sogar Lebensmittel – wurde konfisziert.
Ziel war der vollständige Entzug des Eigentums der deportierten, im KZ Gurs noch lebenden Juden, denen durch den staatlich legitimierten Diebstahl alles genommen wurde, was sie rechtmäßig besaßen. Durch den Entzug ihres Eigentums und Vermögens wurde vielen die letzte Chance auf Auswanderung entzogen.
Im Anschluß an die als "Verwaltung jüdischen Eigentums" bezeichnete Enteignung wurde in Hardheim die sogenannte "Verwertung" durchgeführt – die öffentliche Versteigerung des Mobiliarvermögens. Die beschlagnahmten jüdischen Häuser wurden an "Volksgenossen" vermietet bzw. verkauft. Mieteinnahmen wurden vom Staat kassiert und mußten an das Finanzamt Buchen abgeführt werden. Die Grundstücke der ehemaligen jüdischen Einwohner wurden verpachtet, später ebenfalls verkauft. Bis 1945 ging so ein Großteil des Eigentums der enteigneten Hardheimer Juden an ihre einstigen Nachbarn über.
T 5.8a
Schritte der Enteignung
Schrittweise wurden den jüdischen Bürgern zunächst ihre Eigentumsrechte eingeschränkt und schließlich das gesamte verbliebene Vermögen genommen:
Im Jahr 1938 werden die noch in jüdischem Besitz befindlichen Gewerbebetriebe "arisiert" oder aufgelöst wie die Firma Julius Sinsheimer (Seifensiederei und Getreidehandlung) (oben rechts).
Schon einen Tag nach der Deportation der badischen Juden nach Gurs beschlagnahmt der Gauleiter "das gesamte Vermögen der aus Baden ausgewiesenen Juden" und übergibt die Verwaltung einem "Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen". Diese Anordnung durfte im übrigen nicht veröffentlicht werden (rechts).
Aufgrund der Beschlagnahmung des Vermögens der deportierten Juden wurde eine Inventarisierung durchgeführt (rechts unten). Das Geldvermögen der Deportierten bei der Sparkasse in Hardheim betrug 101.221,08 RM; das Geld wurde gleichfalls beschlagnahmt.
In der letzten Stufe wurde 1942 das Vermögen aller Juden, die emigriert waren, enteignet (links unten).
(GA Hardheim I A 469 / 471)
Die Schicksale der Hardheimer Juden 1933-1945
David Berwanger, geboren 1858, verlebte seinen Ruhestand in Hardheim und wohnte dort bei Selma Hanft. Er starb am 19. Januar 1939 und wurde als letzter Jude auf dem Friedhof der jüdischen Gemeinde in Hardheim bestattet.
Pfeifer Billigheimer, geboren 1860 in Hardheim, entstammte einer alten Hardheimer Familie und war Lederhändler; ihm gelang 1938/39 zusammen mit seiner Frau die Emigration nach Amerika.
Regine Billigheimer, geborene Gutmann, geboren 1865 in Hardheim, konnte zusammen mit ihrem Mann Pfeifer Billigheimer 1938/39 in die USA emigrieren.
Julius Billigheimer, geboren 1898 in Hardheim, ein Sohn von Pfeifer Billigheimer und seiner Frau Regine, geborene Gutmann, starb in jungen Jahren am 8. Juni 1935.
Rita Billigheimer, geborene Urspringer, geboren 1902 in Hardheim, war seit 1925 mit dem 1935 verstorbenen Julius Billigheimer verheiratet. Die Tochter von Jakob und Selma Urspringer wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs in Südwestfrankreich deportiert. Rita Billigheimer versuchte noch Anfang 1941, die zur Auswanderung notwendigen Papiere zu bekommen; sie wurde am 12. August 1942 nach Auschwitz transportiert und dort ermordet.
Manfred Billigheimer, geboren 1927 in Hardheim. Im Alter von neun Jahren kam der Sohn von Julius und Rita Billigheimer auf eine jüdische Schule in Frankfurt a.M. und wurde von dort aus mit einem Kindertransport noch im Jahr 1939 nach Palästina gebracht.
Edith Billigheimer,
geboren 1932 als Tochter von Julius und Rita Billigheimer, kam wohl wie ihr Bruder Manfred
zunächst 1939 nach Frankfurt a.M. in eine jüdische Schule. Von dort aus wurde sie im
September 1942 nach Theresienstadt deportiert und vermutlich ermordet.
Rika Billigheimer,
geboren 1868 in Hardheim, verzog Anfang 1940 nach Darmstadt; am 27. September 1942 kam sie
nach Theresienstadt, wo sie den Tod fand.
Max Eschelbacher, geboren 1853 in Hardheim und dort als Witwer lebend, verstarb im Jahr 1936.
Laura Eschelbacher, geboren 1888 in Hardheim, Tochter von Max Eschelbacher, verzog 1936 – nach dem Tode ihres Vaters – nach Neckarbischofsheim und siedelte später nach Hemsbach über. Dort war sie am 22. Oktober 1940 von der Deportation nach Gurs betroffen. Von Gurs aus wurde sie am 14. August 1942 nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.
Jeanette Halle, geborene Lehmann, geboren 1861 in Wenkheim, lebte seit 1885 mit ihrem Mann Gerson Halle in Hardheim. Am 22. Oktober 1940 wurde die 79jährige Frau nach Gurs deportiert, wo sie nach wenigen Wochen am 8. Januar 1941 verstarb.
Ernestine Halle, geboren 1888 in Hardheim und Tochter von Gerson und Jeanette Halle, wurde zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem Bruder 1940 nach Gurs deportiert. Knapp zwei Jahre später kam sie nach Auschwitz, wo sie ermordet wurde.
Helene Halle, geboren 1890 in Hardheim als Tochter von Gerson und Jeanette Halle, wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Am 12. August 1942 verbrachte man sie nach Auschwitz und ermordete sie.
Samuel Halle, geboren 1892 in Hardheim, Sohn von Gerson und Jeanette Halle, von Beruf Kaufmann. Samuel Halle wurde schon während des Novemberpogroms 1938 verschleppt, kehrte allerdings wieder nach Hardheim zurück. Am 22. Oktober 1940 wurde er nach Gurs deportiert, wo sich seine Spur verliert. Er wurde 1950 für tot erklärt.
Selma Hanft, geboren 1879 in Hardheim, war eine Tochter von Moses und Jeanette Berwanger und Cousine von David Berwanger; die 61jährige wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs in Südwestfrankreich deportiert, wo sie auf nicht bekannte Weise den Tod gefunden hat. Im Februar 1941 hatte sie noch versucht, Auswanderungspapiere in Hardheim anzufordern; am 31. Dezember 1945 wurde sie für tot erklärt.
Henriette Israel, geborene Sinsheimer, geboren 1886 in Hardheim, heiratete im März 1914 Wolf (Adolf) Israel, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Ihre Tochter Herta, verheiratete Braunschweiger, wanderte noch vor 1933 nach USA aus und versuchte im Jahr 1941, ihre nach Gurs deportierte Mutter nach New York kommen zu lassen. Henriette Israel starb jedoch während der Überfahrt aus Schwäche und wurde auf den Bermuda-Inseln begraben.
Gita Israel, geboren 1917, Tochter von Henriette Israel, folgte noch vor Juli 1938 ihrer Schwester Herta in die USA.
Liebmann Rosenthal, geboren 1864, kam 1888 nach Hardheim. Der Viehhändler war in erster Ehe mit Sara Strauß und nach deren Tod mit Mina Urspringer verheiratet. Liebmann Rosenthal konnte 1938 seinen Grundstücksbesitz in Hardheim veräußern und siedelte am 12. Dezember 1939 gemeinsam mit seiner zweiten Frau nach New York über.
Mina Rosenthal, geborene Urspringer, geboren 1877 in Hardheim und seit 1900 mit Liebmann Rosenthal verheiratet, konnte mit ihrem Mann im Dezember 1939 nach New York emigrieren.
Sigmund Rosenthal, geboren 1892 in Hardheim, ein Sohn aus der ersten Ehe von Liebmann Rosenthal, wanderte schon vor 1938 in die USA aus.
Flora Rosenthal, geborene Siegel, Geburtsdatum unbekannt, war mit Sigmund Rosenthal verheiratet und wanderte gemeinsam mit ihrem Mann schon vor 1938 in die USA aus.
Fritz Rosenthal, geboren 1919 in Hardheim, ein Sohn von Sigmund und Flora Rosenthal, wanderte mit seinen Eltern vor 1938 in die USA aus.
Sophie Schwarzmann, geboren 1880 in Hardheim, von Beruf Kurzwarenhändlerin, wanderte 1937 gemeinsam mit ihrer Schwester Amalie Schwarzmann in die USA aus.
Amalie Schwarzmann, geboren 1882 in Hardheim, von Beruf Kurzwarenhändlerin, wanderte 1937 gemeinsam mit ihrer Schwester Sophie Schwarzmann in die USA aus.
Abraham Selig, geboren 1869 in Hardheim, war von Beruf Kaufmann. Unter seiner Leitung hatte sich die Eisen- und Maschinenhandlung Selig zu einem der wichtigsten Betriebe in Hardheim entwickelt. Selig wurde am 22. Oktober 1940 im Alter von 71 Jahren nach Gurs deportiert, wo er – wie viele andere ältere Deportierte – im ersten Winter nach der Internierung am 4. Dezember 1940 starb.
Lina Selig, geborene Frank, geboren 1875 in Rödelsee, kam 1900 nach Hardheim. Sie war mit Abraham Selig verheiratet und wurde mit ihm nach Gurs deportiert. Sie forderte noch am 31. Mai 1941 die Nachsendung von drei Koffern an, die bei der Deportation in Hardheim zurückgeblieben waren. Weiteres ist nicht bekannt.
Max Selig, geboren 1907 in Hardheim, war der Sohn von Abraham und Lina Selig und Eisenwarenhändler. Ende 1938 stellte er einen Antrag auf einen Reisepaß und konnte dann vor Ende März 1939 in die USA auswandern.
Lina Selig, geborene Löwenthal, geboren 1914 in Würzburg, konnte gemeinsam mit ihrem Ehemann Max Selig Ende 1938 / März 1939 in die USA auswandern.
Sigmund Simon, geboren 1878 in Echzell, lebte seit 1903 als Viehhändler in Hardheim; 1905 heiratete er Sara Sinsheimer. Nach der Deportation nach Gurs starb er dort an den Folgen der unmenschlichen Lagerbedingungen am 7. Januar 1942.
Sara Simon, geborene Sinsheimer, geboren 1876 in Hardheim, war die Tochter von Josef und Justine Eschelbacher. Gemeinsam mit ihrem Mann Sigmund Simon wurde sie am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, wo sie am 26. Februar 1942 – wenige Wochen nach ihrem Mann – den Tod fand.
Siegfried Simon, geboren 1908 in Hardheim, war der Sohn von Sigmund und Sara Simon. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die nach Gurs verschleppt wurden, konnte er in die USA auswandern; das genaue Datum ist nicht bekannt.
Josef Simon, geboren 1907 in Hardheim, war der Sohn von Sigmund und Sara Simon und arbeitete als Viehhändler. 1933 heiratete er Paula Sonneberg, mit der er vor Mitte 1938 in die USA auswanderte. Dort betrieb er eine Metzgerei.
Paula Simon, geborene Sonneberg, geboren 1907 in Somborn, kam 1933 durch ihre Eheschließung mit Josef Simon nach Hardheim. Gemeinsam mit ihrem Mann konnte sie vor Mitte 1938 in die USA auswandern.
Julius Sinsheimer, geboren 1865 in Hardheim, war der Sohn des Seifensieders Abraham Sinsheimer und seiner Frau Julie, geborene Reis. Er war von Beruf ebenfalls Seifensieder und Getreidehändler – für die Lagerung des Getreides hatte er Schloßspeicher (die heutige Erftalhalle) gepachtet. Julius Sinsheimer wurde nach Gurs deportiert und starb dort am 30. November 1941. Der Versuch, gemeinsam mit seiner Ehefrau Ida im Mai 1941 in die USA auszuwandern, war gescheitert, nachdem die angeforderten Unterlagen nicht rechtzeitig zum Termin der schon gebuchten Schiffspassage eingetroffen waren.
Ida Sinsheimer, geborene Stein, geboren 1876 in Messelhausen, kam 1900 nach Hardheim, wo sie Julius Sinsheimer heiratete. Gemeinsam mit ihrem Ehemann wurde sie am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Von dort forderte sie am 20. Mai 1941 über Max Israel Ehrlich aus Bamberg Urkunden an, um ihre Auswanderung vorzubereiten – eine Schiffspassage ab Lissabon war für den 20. Mai 1941 gebucht. Ida Sinsheimer starb am 8. November 1941, 22 Tage vor ihrem Ehemann Julius Sinsheimer.
Berta Sinsheimer, geboren 1867 in Hardheim, war die Tochter von Abraham und Julie Sinsheimer. Am 22. Oktober 1940 wurde sie nach Gurs deportiert. Gemeinsam mit ihrem Bruder Julius, ihrer Schwägerin Ida und ihrer Schwester Regine forderte sie von dort am 12. Mai 1941 ihre Auswanderungspapiere an. Berta Sinsheimer überlebte den Holocaust und zog 1945 zu ihrem Neffen Ludwig Sinsheimer nach New York, wo sie 1959 als 92jährige verstarb.
Regine Sinsheimer, geboren 1872 in Hardheim, war die Tochter von Abraham und Julie Sinsheimer und wohnte unverheiratet mit ihrem Bruder Julius, dessen Ehefrau Ida und ihrer Schwester Berta in der Holzgasse 3 in Hardheim. Sie wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Gemeinsam mit ihrer Familie bemühte sie sich um die Auswanderung in die USA; der Versuch scheiterte jedoch im Mai 1941, als die notwendigen Papiere zur Ausreise nicht rechtzeitig vor dem Termin der Schiffsbuchung eintrafen. Im Gegensatz zu Bruder und Schwägerin, die in Gurs den Tod fanden, überlebte sie den Holocaust und wanderte 1945 gemeinsam mit ihrer Schwester Berta in die USA aus. Dort starb sie 1958 im Alter von 86 Jahren im Hause ihres Neffen Ludwig Sinsheimer.
Arthur Strauß, geboren 1889 in Hardheim, von Beruf Handelsmann, war mit Sophie Billigheimer verheiratet und stellte am 7. September 1937 einen Antrag auf einen Reisepaß. Er gab sein Geschäft auf und verkaufte seine Liegenschaften. Der Reisepaß wurde ihm am 19. Januar 1938 zugestellt, in der ersten Hälfte des Jahres 1938 wanderte er in die USA aus. Er verstarb in Miami.
Sophie Strauß, geborene Billigheimer, geboren 1892 in Hardheim, war die Tochter von Pfeifer und Regine Billigheimer. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Arthur Strauß stellte sie am 7. September 1937 einen Antrag auf einen Reisepaß. Die Familie gab ihr Geschäft auf und wanderte Anfang 1938 in die USA aus. Sophie Strauß starb 1994 in Miami.
Melli Strauß, geboren 1920 in Hardheim, war die Tochter von Arthur und Sophie Strauß. Sie verließ am 5. Oktober 1936 das Land und fand – wiedervereint mit ihrer Familie – ihre neue Heimat in den USA.
Liese Strauß, geboren 1922 in Hardheim, die Tochter von Arthur und Sophie Strauß, lebte mit Eltern und Schwester Melli in der Wertheimer Straße 30, bevor sie im Alter von 14 Jahren am 25. November 1936 die Überfahrt nach New York antrat. In den USA traf sie ihre Eltern und ihre Schwester, die ebenfalls in die USA emigrieren konnten.
Bernhard Strauß, geboren 1875 in Hardheim, war der Sohn von Isak und Karolina Strauß und von Beruf Viehhändler. Er emigrierte gemeinsam mit seiner Ehefrau Amalie vor dem 30. März 1939 in die USA.
Amalie Strauß, geborene Bierig, geboren 1879 in Edelfingen, kam 1908 nach Hardheim. Sie war verheiratet mit Bernhard Strauß, mit dem sie vor dem 30. März 1939 in die USA auswanderte.
Julius Strauß, geboren 1900 in Hardheim, Sohn von Isak und Frieda Strauß, von Beruf Schuhkaufmann, erhielt am 6. September 1937 einen Reisepaß und wanderte mit seiner Familie in die USA aus.
Babette Strauß, geborene Mainzer, geboren 1902, heiratete 1928 Julius Strauß und siedelte 1929 nach Hardheim um. Am 6. September 1937 wurden der Familie Strauß Reisepässe ausgehändigt, kurz darauf emigrierte sie in die USA.
Heinz Strauß, geboren 1931 in Hardheim, verließ 1937 im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern Julius und Babette Strauß Hardheim. Die Familie ließ sich in den USA nieder.
Fritz Strauß,
geboren 1935 in Hardheim, verbrachte nur die ersten beiden Lebensjahre in Hardheim. Seine
Eltern, Julius und Babette Strauß, verließen 1937 mit ihren beiden Kindern Heinz und
Fritz Deutschland und emigrierten in die USA.
Moses (Josef?) Strauß, geboren 1866 in Hardheim, war der Vorbeter der jüdischen Gemeinde in Hardheim. Er arbeitete als Kaufmann und Versicherungsagent und konnte bereits 1936 in die USA auswandern, wo er vor 1948 starb.
Aronie Strauß, geboren 1875 in Thüngen, war verheiratet mit Moses (Josef?) Strauß. Sie wanderte mit ihrer Familie 1936 in die USA aus.
Jakob Urspringer, geboren 1873 in Hardheim als Sohn von Abraham Urspringer, war von Beruf Kaufmann und betrieb sein Geschäft unter dem Firmennamen A. H. Urspringer. 1938 verkaufte er sein Geschäftsgrundstück. Im Oktober 1940 wurde er in Gurs interniert. Von dort forderte er im Januar 1941 Auswanderungsunterlagen an – wie auch seine Ehefrau Selma und seine Tochter Rita, die beide nach Ausschwitz deportiert und dort ermordert wurden. Er selbst starb Anfang 1945 in Südfrankreich.
Selma Urspringer, geborene Bonheim, geboren 1879, heiratete 1901 Jakob Urspringer und kam 1903 nach Hardheim. Am 22. Oktober 1940 wurde sie nach Gurs deportiert. Im Januar forderte sie gemeinsam mit ihren Familienangehörigen von Gurs aus Urkunden an, die ihr eventuell die Ausreise ermöglicht hätten. Selma Urspringer gehörte – wie ihre Tochter Rita – zu den ersten Deportationszügen, die im August 1942 nach Auschwitz gingen. Im Konzentrationslager Auschwitz wurde sie ermordet.
Reni Wolff, geborene Urspringer, geboren 1909 in Hardheim, konnte vor Mitte 1939 in die USA emigrieren.
Norbert Wolff, geboren 1899, verheiratet mit Reni Wolff, geborene Urspringer, wohnte als Kaufmann ab 1935 in Hardheim. Gemeinsam mit seiner Familie wanderte er vor Mitte 1939 in die USA aus.
Lutz Wolff, geboren 1936 in Würzburg, wurde 1939 als Dreijähriger von seinen Eltern Reni Wolff, geborene Urspringer, und Norbert Wolff mit in die USA genommen, wo die Familie dem Holocaust entging.
Abraham Schriesheimer, geboren 1873 in Leutershausen, war im September 1939 für wenige Tage in Hardheim gemeldet; er wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.
Henriette Schriesheimer, geborene Maus, geboren 1875, war im September 1939 für wenige Tage in Hardheim gemeldet – Juden mußten sich selbst bei einem Besuch polizeilich anmelden. Henriette Schriesheimer wurde 1940 nach Gurs deportiert und am 7. März 1944 in Auschwitz ermordet.
Max Maier,
geboren 1872, Kaufmann, war im September 1939 einige Tage in Hardheim gemeldet; seine Spur
verliert sich 1940 in Gurs.
Ella Maier, geborene Israel, geboren 1879, war im September 1939 einige Tage in Hardheim; über ihr Schicksal ist weiter nichts bekannt.
Berta Kolb, geboren 1892, kam 1934 als Hausgehilfin bei Abraham Selig nach Hardheim; sie verließ Hardheim 1937. Im Jahr 1942 wurde sie nach Izbica verbracht, wo sie wohl den Tod fand.
Fritz Springer, geboren 1915, war seit 1935 kaufmännischer Angestellter bei Abraham Selig. Springer meldete sich im August 1939 auf drei Monate ab, kehrte jedoch nicht mehr nach Hardheim zurück. Er fand am 19. Februar 1942 in Maidanek den Tod.
Erich Rohrmann, geboren 1920, war Kaufmannslehrling in der Firma von Abraham Selig. Er verließ Hardheim 1936. Sein Schicksal ist unbekannt.
Manfred Siegel, geboren 1911, kam 1925 als kaufmännischer Angestellter der Firma Abraham Selig nach Hardheim. Siegel verließ die Firma im März 1938; sein Schicksal ist unbekannt.
Robert Mergentheimer, geboren 1916, war seit 1934 Angestellter in der Firma von Abraham Selig; er konnte wohl 1937 nach Amerika auswandern.
Siegfried Kahn, geboren 1921 in Tübingen, gehörte vielleicht zu den Angestellten von Abraham Selig und verließ Hardheim noch im Jahr 1938. Sein Schicksal ist unbekannt.
Norman Blechner kam vor Juli 1937 nach Hardheim; er stellte Ende 1938 einen Antrag auf einen Reisepaß. Es ist unbekannt, ob ihm dieser gewährt wurde.
Erich Sander kam vor September 1937 nach Hardheim, verzog jedoch noch im Januar 1938 wieder; mehr ist über ihn nicht bekannt.
Jacob Meier kam vor Dezember 1937 nach Hardheim, wo er wohl etwa 1 ½ Jahre verbrachte; weiteres ist unbekannt.
Adolf Aronson lebte im Verlauf des Jahres 1938 in Hardheim.
Max Heinz Böhm war vor März 1938 einige Zeit in Hardheim gemeldet.
Salo Würzburger, geboren 1914 in Künzelsau, war seit Oktober 1936 als kaufmännischer Angestellter in Hardheim, verzog jedoch im Januar 1937 nach Landwerk Neuendorf bei Fürstenwalde an der Spree.
Hilde Würzburger, geboren 1900 Künzelsau, kam im Oktober 1936 zusammen mit Salo Würzburger nach Hardheim, das sie zusammen mit ihm im Januar 1937 zunächst wieder verließ. Hilde Würzburger ist jedoch im Dezember 1938 wieder in Hardheim gemeldet; ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt.
Erich Heimann, geboren 1915 in Homburg, kam 1931 als kaufmännischer Angestellter nach Hardheim. Vor Juli 1938 verließ er den Ort wieder; mehr ist über ihn nicht bekannt.
Alfred Katz, geboren 1905, war seit 1919 Buchhalter bei Abraham Selig. Er beantragte am 28 September 1937 einen Reisepaß zur Auswanderung in die USA und hat wohl vor Juli 1938 Hardheim verlassen.
Wiedergutmachung
Im Bundesentschädigungsgesetz vom 29. Januar 1956 wurde die Wiedergutmachung für die zwischen 1933 und 1945 verfolgten Personen endgültig festgeschrieben. Damit wurde auch eine verbindliche Rechtsgrundlage für Rückerstattungsansprüche jüdischer Flüchtlinge geschaffen.
Am Beispiel der Hardheimer Familie Halle wird jedoch deutlich, daß sich die Regelung oft jahrelang hinzog und nur ein Teil der erlittenen finanziellen Verluste erstattet wurde.
Wie vielen anderen Juden war auch den Halles aufgrund der Verfolgung durch die Nationalsozialisten die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen worden. Der Hardheimer Besitz der Familie war von den Nationalsozialisten konfisziert worden. Zu den Schäden im wirtschaftlichen Fortkommen und dem Verlust der Rentenansprüche kamen die Kosten für die Auswanderung sowie die finanziellen Schwierigkeiten in der neuen Heimat.
Anfang der fünfziger Jahre versuchten die Hinterbliebenen, ihre Erb- und Rückerstattungsansprüche geltend zu machen. Der Verkauf des in Hardheim ererbten Hauses sowie die Rückzahlung der entzogenen Miete zogen sich bis 1957 hin.
Schwierigkeiten gab es auch bei der Rückerstattung des von den Nationalsozialisten beschlagnahmten Hausrats. Bei der Feststellung des entstandenen Schadens leugneten die befragten Zeugen teilweise die Existenz wertvoller Silbergegenstände und -bestecke. Dem jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen, Max Halle, wurde in dieser Angelegenheit kein Glauben geschenkt.
So blieb auch hier – wie in vielen anderen Fällen – eine annähernd vollständige Wiedergutmachung der entstandenen finanziellen Schäden aus.
T 6.1a
Der Kampf um eine finanzielle Entschädigung
Über mehrere Jahre hinweg versuchte der in Hardheim geborene Max Halle – er hatte vor seiner Emigration in Nürnberg gelebt -, eine Entschädigung für die seiner Familie entstandenen finanziellen Schäden zu erhalten. Er schreibt 1955:
"Ich habe davon Kenntnis genommen, daß die Wiedergutmachungsstelle den von mir verlangten Mindestbetrag von DM 20.000,- als zu hoch erachtet. Hierzu habe ich folgendes zu erwidern. Ich werde mich unter keinen Umständen mit dem offerierten Betrag von 8.000 DM einverstanden erklären. Zunächst zu dem Punkt »Silbergegenstände«. Wer von den Zeugen oder welcher Außenstehende kann wissen, was meine Angehörigen an Silber etc. hatten. Wer meine Leute kannte weiß genau, daß sie ruhig und zurückgezogen gelebt haben und nicht nach außen gezeigt haben, was sie waren und besessen haben. Ich kann nur mitteilen und kann es, wenn es verlangt wird, vor dem Deutschen Konsulat beschwören (…), daß der von mir dafür angesetzte Betrag nicht zu hoch ist. Es ist ja nicht meine Schuld, daß man alles den Juden geraubt hat und heute versucht so gut wie nichts dafür zu zahlen. Ich glaube Ihnen schon einmal geschrieben zu haben, daß meine ganze Familie, Mutter, 2 Schwestern, 2 Brüder, einer davon mit Frau und 2 Nichten, vernichtet wurden. Dazu kommen eine ganze Reihe entfernte Verwandte wie Tanten und Onkels! Nun versucht man diesem himmelschreienden Verbrechen weiteres Unrecht anzufügen."
T 6.1b
Noch während der Besatzungszeit wurden auf Initiative der Militärregierung erste Maßnahmen zur Wiedergutmachung eingeleitet; vor allem Verkäufe von Immobilien wurden neu geschätzt und die Erwerber mußten den Differenzbetrag nacherstatten.
(GA Hardheim I A 471)
Der "Förster von Brooklyn"
Schon in den zwanziger Jahren hatte Willi Wertheimer begonnen, sich für die zionistische Bewegung zu engagieren. Er wurde ehrenamtlich für den Jüdischen Nationalfond (Keren Kajemeth Lejisrael) tätig, dessen Ziel es war, über Spendengelder Boden in Palästina zu kaufen, der in unveräußerliches jüdisches Volkseigentum übertragen werden sollte. Gleichzeitig versuchte die Organisation, die Wiederaufforstung Palästinas in Gang zu bringen.
Nach 1945 begann der Keren Kajemeth mit der Anlage des aus 19 Abschnitten bestehenden "Märtyrerwaldes", zum Gedenken an die 6 Millionen durch die Nationalsozialisten ermordeten Juden. Jeder hier gepflanzte Baum war ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung des Klimas und des Wasserhaushalts des Landes und wurde gleichzeitig zum lebendigen Monument für die Opfer des Holocaust.
Wertheimer setzte nach 1945 seine Tätigkeit für den Keren Kajemeth von Brooklyn aus fort. Er initiierte in der Nähe von Haifa die Anlage eines Ehrenhains für die 12.000 im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallenen jüdischen Soldaten und wurde so zum "Förster von Brooklyn".
Gleichzeitig engagierte sich Wertheimer für die Errichtung des "Forest of the Jews Formerly from Central Europe", der 1962 als separater Teil des Walds der Märtyrer gepflanzt wurde und in dem tausend Bäume an die ermordeten badischen und württembergischen Juden erinnern.
T 6.1a
Im Jahr 1963 war Willi Wertheimer selbst in Israel und hat den von ihm unterstützten Gedenkwald für die im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Juden besucht.
T 6.2b
Zu seinem 65. Geburtstag wird Willi Wertheimer 1962 eine "Urkunde über 1000 Trees" überreicht, die er in Israel hat pflanzen lassen – links neben Wertheimer seine Frau, rechts neben ihm Direktor Sloan vom Jewish National Fund in New York und der Schwiegersohn Wertheimers, John Ottenheimer.
T 6.2c
Urkunde über einen in Israel gepflanzten Baum – Willi Wertheimer hat bei jeder Gelegenheit versucht, dem großen Ziel der Aufforstung Israels näher zu kommen und so auch selbst immer wieder Bäume gespendet oder andere zu Baumspenden aufgefordert.
Streben nach Versöhnung – Willi Wertheimer und Hardheim
Willi Wertheimer war 1938
zwar die Flucht nach Amerika gelungen, seine Familie – seine sieben Geschwister und deren
Familien – war jedoch Opfer des Holocaust geworden.
Trotz Verfolgung, Leiden und vielfachem Verlust hat sich Wertheimer immer wieder um Verständigung und Versöhnung mit dem Nachkriegsdeutschland und seiner unmittelbaren Heimat Hardheim bemüht. Sein Anliegen war einerseits, durch die Aufklärung der jüngeren, am Verbrechen des Nationalsozialismus unschuldigen Generationen künftigen Antisemitismus und Völkermord verhindern zu helfen. Andererseits fühlte sich Wertheimer auch nach langen Jahren der Emigration noch immer mit seiner Heimat verbunden.
Seine Autobiographie, für die Wertheimer 1978 die Goldene Bürger- und Verdienstmedaille der Gemeinde Hardheim verliehen bekam, ist eine Hommage an das Hardheim des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, an eine Zeit, in der Juden und Christen weitgehend gleichberechtigt zusammengelebt hatten. Gleichzeitig ist der "Förster von Brooklyn" ein Zeichen der Versöhnung.
Im November 1978 – 40 Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland – kehrte der mittlerweile einundachtzigjährige Wertheimer zusammen mit seiner Familie zu einem längeren offiziellen Besuch nach Hardheim zurück. Neben der Herzlichkeit, mit der Wertheimer als "Hordemer" samt seiner Familie in Hardheim empfangen wurde, hat sein Besuch auch Scham und Traurigkeit über das geweckt, was man den Deutschen jüdischen Glaubens während des Dritten Reichs angetan hat.
T 6.3a
Zur Erinnerung an denBesuch von Willi Wertheimer in Hardheim im Jahr 1978 hat Fritz Feuchtmeyer, ein Freund der Familie Wertheimer, dieses Heft mit Fotos und Zeitungsausschnitten zusammengestellt. Fritz Feuchtmeyer war auch der Herausgeber des Wertheimer-Buchs.
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In den siebziger Jahren – noch vor Wertheimers erstem offiziellen Besuch in Hardheim – trat die Gemeinde Hardheim mit ihren ehemaligen jüdischen Mitbürgern in Kontakt, und Willi Wertheimer vermittelte die Adressen der in alle Welt verstreuten früheren Hardheimer. Einige von ihnen konnten auch noch einmal ihre alte Heimat besuchen.
Anfragen und Informationen zum Thema Jüdische Gemeinde bitte direkt an Herrn Gerhard Wanitschek