Kriegsgesichter – Menschengesichter Hardheimer im Ersten Weltkrieg

Ausstellung vom 17.9.2004 bis 17.10.2004

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung am 17.September 2004

„Umringt von einer Welt von Feinden“ – Hardheim im Ersten Weltkrieg

Peter Wanner

Die österreichische 2-Euro-Münze trägt das Bild einer Frau. Es ist nicht Kaiserin Maria Theresia und auch nicht Sissi. Die Münze zeigt das Portrait von Berta von Suttner. Sie hat viel mit unserem Thema zu tun: Sie ist die Begründerin der Friedensbewegung, ihr weltberühmter Roman „Die Waffen nieder“ von 1889 steht an ihrem Anfang. Berta von Suttner hat Alfred Nobel dazu bewegt, den Friedensnobelpreis zu stiften, und ihr wurde er 1905 als erster Frau verliehen. Sie ist 1914 gestorben, am 21. Juni, wenige Wochen vor Beginn des Ersten Weltkriegs.

Sie hat das große Völkermorden nicht mehr erlebt, gegen das sie fast ein ganzes Leben lang gekämpft hat.

Nicht nur Berta von Suttner hatte es prophezeit – dieser kommende Krieg schlage ein neues Kapitel in der Kriegsgeschichte auf, in der Menschheitsgeschichte, die immer auch Kriegsgeschichte war und ist. Erstmals gab es Massenvernichtungswaffen im modernen Sinne, erstmals erwartete man einen Weltkrieg in dem Sinne, dass nicht nur Europa den Rest der Welt mit Krieg und Gewalt überzieht, wie das unser Kontinent ja seit Jahrhunderten vorher praktiziert hatte, nein, ein Weltkrieg, an dem außereuropäische Staaten sich aktiv beteiligen würden, wurde erwartet – v.a. die USA und Japan gehörten zu den Teilnehmern an diesem beginnenden Krieg. Friedrich Engels etwa hatte bereits 1887 einen „Weltkrieg von einer bisher nie gekannten Ausdehnung und Heftigkeit“ kommen sehen. Er prognostizierte: „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen.“ Auf 8.550.500 summierten sich allein die Toten der 10 hauptbeteiligen Staaten, darunter 1.808.500 Deutsche und 1,7 Millionen Russen.

Und die Vision des kommenden Krieges von Friedrich Engels nimmt den Verlauf des Ersten Weltkriegs schon vorweg, fast 30 Jahre bevor der Krieg tatsächlich begann: „Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet. Hungersnot, Seuchen, allgemeine […] Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung […] in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott;

Zusammenbruch der alten Staaten […] derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird.“

Und die Kronen rollten, drei Kaiserkronen – die uralte russische Zarenkrone 1917, die jüngere österreichischungarische und die gerade einmal 43 Jahre alte deutsche 1918. Mit ihnen rollten in Deutschland einige Königs- und andere Kronen, vor allem die mitteleuropäischen Staaten veränderten sich, nach kurzen demokratischen Zwischenspielen übernahmen faschistische Bewegungen die Macht, beginnend 1922 in Italien. Der wirtschaftliche Bankrott der Teilnehmerstaaten kam, Deutschland brach 1923 in der Inflation zusammen, der Börsencrash in USA 1929 hatte dramatische Folgen auch für ganz Europa.

Hungersnot und Seuchen: Die große Spanische Grippe 1918 forderte weltweit 27 Millionen Menschenleben, in Deutschland starben etwa 225.000 Menschen.

Verwilderung der Sitten: Großstadtdschungel, Rückkehrerdramen, Entwurzelung. Engels hatte Recht, und nicht nur er, auch andere warteten auf diesen Krieg. Im Sommer 1914, vor 90 Jahren war es soweit, aus geringfügigem Anlass wurde der verhängnisvolle Mechanismus aus vorgefassten strategischen Plänen, Ultimaten, Mobilmachungen und Bündnisverpflichtungen

in Gang gesetzt und rollte innerhalb weniger Wochen ab. Der Krieg begann.

1 Krieg als Zeitenwende
Wir neigen im Rückblick dazu, die Vergangenheit, die Geschichte einzuteilen in normale Zeiten, ohne herausragende Ereignisse, und Wende-, Krisen-, Katastrophenzeiten, die den Geschichtsverlauf gliedern. Solche Ereignisse waren etwa die Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs in Versailles am 18. Januar 1871, der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und die

Novemberrevolution 1918, die Machtübernahme durch Hitler am 30. Januar 1933, die Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945, die Gründung der beiden deutschen Staaten am 23. Mai bzw. 7. Oktober 1949, und schließlich die Maueröffnung am 9. November 1989 und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990. Sie gliedern die deutsche Geschichte der letzten 130 Jahre.

Wir betrachten diese Wendemarken gerne auch als Grenzen zwischen den Epochen und Zeiträumen: Hitlers Machtergreifung ist der Beginn und die Kapitulation 1945 das Ende des Nationalsozialismus. Das Ende des Ersten Weltkriegs gilt gleichzeitig als das Ende des Deutschen Kaiserreichs.

Aber dies ist immer ein Stück Illusion, Fiktion, Erfindung, hat doch alles Vor- und Nachgeschichte, gibt es doch in der Geschichte keine Stunde Null. Wir arbeiten gerne mit großen Daten, weil sie uns die Arbeit des Gliederns und Systematisierens erleichtern, und sie geben uns die Jubiläen und runden Gedenktage an die Hand: heute 90 Jahre Erster Weltkrieg, 2005 dann 60 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs etc. Dennoch sind immer wir es, die auf die Geschichte zurückblicken und Wendepunkte, Höhepunkte, Tiefpunkte setzen. Und die Bewertung ändert sich, so dass wir heute die Epochengrenzen anders ziehen als noch vor 20 oder 30 Jahren: Der Erste Weltkrieg wird mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpft, erst nach 1945 endet die Epoche der europäischen Nationalstaatskriege.

Hans Ulrich Wehler, sicher einer der bekanntesten und profiliertesten deutschen Historiker, bezeichnet diese Epoche als den zweiten Dreißigjährigen Krieg und stützt sich damit auf andere, die diese Bezeichnung ebenfalls benutzt haben. Und tatsächlich: Weit über die reine Zeitspanne von dreißig Jahren hinaus gibt es Parallelen zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert:

Ž Der Dreißigjährige Krieg von 1618–1648 war insofern schon ein Weltkrieg, als er nicht nur m Herzen Europas, sondern auch in den Kolonien geführt wurde.

Ž Beides waren totale Kriege in dem Sinne, dass neue Waffen von großer zerstörerischer Wirkung nicht nur gegen feindliche Heere, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet wurden; die „herkömmliche Grenze zwischen militärischer Front und friedlicher Heimat“ löste sich auf (Wehler)

Ž Beides waren totale Kriege, die durch Religion und Weltanschauung legitimiert und radikalisiert wurden – katholischer Glaube gegen den protestantischen im 17. Jahrhundert, Patriotismus und Nationalismus, Faschismus und Antisemitismus im 20. Jahrhundert.

Wer heute im großen Roman des Dreißigjährigen Krieges liest, dem „abenteuerlichen Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, der erschrickt ebenso über die beschriebenen Gräuel und Grausamkeiten wie der Betrachter der Fotos aus dem Ersten Weltkrieg oder dem kaum zu ertragenden Anblick jener verstümmelten Soldaten, die nach diesem Krieg versteckt in abgelegenen Lazaretten ihr Leben fristeten.

2 Der Krieg bricht aus – Vorgeschichte und Beginn
Vor allem der Beginn und das Ende von Kriegen gelten als herausragende Themen, wobei der Beginn eines Kriegs oft mit dem Wort: „Der Krieg bricht aus“ umschrieben wird, als handele es sich um ein böses Tier oder einen gefährlichen Gefangenen. Aber Kriege brechen nicht aus, sie werden begonnen von Menschen, Regierungen, Terroristen.

Über den Beginn des Ersten Weltkrieges wurde in der Geschichtswissenschaft anhaltend gestritten. Seit im Vertrag von Versailles 1919 Deutschland die Kriegsschuld angelastet wurde, sprach man in Deutschland selbst von der Kriegsschuldlüge und schwächte die deutsche Rolle im verhängnisvollen Sommer 1914 und den Jahren zuvor ab. Als 1961 der Historiker Fritz Fischer mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ diese Haltung angriff, kam die Diskussion kontrovers in Gang, und heute herrscht die Erkenntnis vor, dass Deutschland große Mitschuld trifft, wenngleich auch die anderen Nationen bewusst auf diesen Krieg zusteuerten, nicht zuletzt das zaristische Russland.

Der Erste Weltkrieg begann als europäischer Krieg, hatte sich in den Jahren, die ihm vorausgingen, vorbereitet durch die Verwerfungen im europäischen Staatensystem, vom Verfall des Osmanischen Reiches auf dem Balkan, der auch Österreich-Ungarn in Mitleidenschaft zog; vorbereitet durch den überzogenen Nationalismus im Zentrum Europas, den Interessenskonflikten im Bereich der Kolonien, den Ablösungsbewegungen der kolonisierten Völker und schließlich den sozialen Umbrüchen innerhalb der industrialisierten Staaten – Revolution und Arbeiterbewegung, Wanderungsbewegungen und Verstädterung, soziale Spannungen und Wertewandel.

Dennoch erschien der Krieg für die normalen Zeitgenossen zunächst ein Krieg wie die vorausgehenden zu sein – in ihrem Bewusstsein war die Erinnerung an den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und die vorausgehenden bewaffneten Konflikte von 1866 und 1864 noch lebendig. Auch hier in Hardheim feierte der Kriegerverein jedes Jahr am 2. September den Sedanstag, den Sieg über Frankreich 1870, und an einen weiteren Sieg haben auch die Hardheimer – und sie unterscheiden sich an dieser Stelle nicht von anderen Deutschen – im August 1914 geglaubt.

Allgemein verbreitet war die Ansicht: „Bis Weihnachten werden wir den Feind auf die Knie gezwungen haben“ – so beschreibt Willi Wertheimer in seinen Lebenserinnerungen die Stimmung in Hardheim. „Ich fuhr nach Hause, und auch da schlug mir eine Welle der Begeisterung entgegen. Endlich war die Stunde der Auseinandersetzung gekommen, die Stunde für neue deutsche „Ruhmestaten““

Patriotismus war der wichtigste Bestandteil im gesellschaftlichen Konsens des Deutschen Kaiserreichs. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ – Werte wie Treue, Ehrlichkeit, Fleiß, Redlichkeit wurden als nationale, als deutsche Werte betrachtet. Und die anderen: Das waren die Unehrlichen und die Faulen, Franzosen und Russen („Jeder Schuss ein Russ – Jeder Stoß ein Franzos …“). Nationales Denken war und ist eben nicht nur Stolz auf die eigene Nation und ihre Leistungen, sondern auch Verachtung und Herabwürdigung anderer Nationen und ihrer Angehörigen.

Diese Verachtung anderer Völker und Kulturen war nicht neu. Insofern steht der Erste Weltkrieg in einer langen Traditionslinie seit den mittelalterlichen Kreuzzügen gegen die „Heiden“, seit der kolonialen Eroberung gegen die „Wilden“, der spanischen Conquista gegen Indios, den kolonialen Beutezügen der Engländer gegen Inder, der Deutsche gegen Hereros usw. Die Europäer unterwarfen sich die Welt außerhalb Europas, bewohnt von als minderwertig betrachteten Menschen.

Im Zeitalter des europäischen Nationalismus wurde der Gedanke der Überlegenheit und Minderwertigkeit dann jedoch auf die Nationen Europas angewandt. Das war neu – noch im Zeitalter der französischen Revolution war Krieg ein Mittel zur Eroberung wirtschaftlicher Ressourcen, zur Ausweitung der eigenen Machtbasis, zur Ausschaltung eines konkurrierenden Herrscherhauses. Die adligen Eliten der europäischen Staaten verachteten ihre eigenen Untertanen, nicht jedoch den Adel des Gegners, mit dem man häufig verwandt war. Innerhalb der europäischen Offizierskaste war es üblich, dem Fürsten zu dienen, der einen bezahlte. Nationalitäten spielten dabei bis Ende des 18. Jahrhunderts keine Rolle.

Erst dann wurden Franzosen und Russen zu deutschen Erbfeinden, und man begann, auf sie herabzusehen, ihre Kultur als minderwertig zu verspotten, ihren Nationalcharakter mit Untugenden zu verbinden: Russen fressen kleine Kinder. Die Liebe zum eigenen Vaterland wird ergänzt durch die Verächtlichmachung der anderen Vaterländer.

Über den positiv besetzten Patriotismus des Kaiserreichs schreibt der Jude Willi Wertheimer in seinen Lebenserinnerungen: „Von früher Jugend auf wurden wir in Schule und Elternhaus patriotisch erzogen. Wir spielten »Soldaterlis«. Soweit wir Geld hatten, kauften wir uns bei Greulich oder sonstwo Uniformstücke, Säbel, Helme der verschiedensten Waffengattungen, Koppel mit den dazugehörigen Trotteln und auch kleine Gewehrchen zum Schießen mit Pulverkapseln (…). Da exerzierten wir nun, sangen patriotische Lieder und spielten auch Krieg. (…)

Alle vier Jahre, während des Divisionsmanövers, stand der Schlossplatz auch im Mittelpunkt des Geschehens. (…) Wenn dann am Nachmittag die Soldaten einrückten, war alles auf den Beinen, und wir Jugendlichen waren stolz auf unsere Soldaten. Besonders interessierten mich die fahrenden und berittenen Truppen wie Kavallerie und Artillerie. Bei den Konzerten waren wir natürlich mit dabei; die Märsche steigerten unseren Patriotismus bis zur Gluthitze.“

Patriotismus als sozialer „Kitt“ rangierte im Kaiserreich noch vor der Religion, vor dem Christentum, denn Patrioten waren auch die Juden, und durch die Kriegsgefahr sogar die sozialistischen Arbeiter, die ihre Vorbehalte gegen den Nationalstaat im Vorfeld des Krieges aufgegeben hatten. Die SPD stimmte den erweiterten Krediten zur Finanzierung des Krieges zu, Kaiser Wilhelm schwadronierte davon, dass er keine Parteien mehr kenne, nur noch Deutsche.

Dennoch darf man die Konfliktlinien im Inneren dieses Deutschen Reiches nicht übersehen. Das Bemühen, sie durch Patriotismus und Vaterlandsbegeisterung zu überdecken, erwies sich in der Krise des Jahres 1914 als konfliktverschärfend. Ansonsten waren sie natürlich trotz Hurra-Deutschland-Stimmung vorhanden. Dabei wurde die soziale Konfliktlinie schon erwähnt; die Herausbildung einer selbstbewussten Industriearbeiterschaft führte zum Erstarken ihrer politischen Vertretung, der sozialistischen Arbeiterbewegung. Da jedoch die Verfassungskonstruktion des Kaiserreichs an vielen Stellen mehr als undemokratisch war, fehlte der sozialistischen Bewegung das tatsächliche politische Gewicht.

Das Kaiserreich hatte einen weiteren wichtigen Konstruktionsfehler: Es war nichts weiter als ein Dachverband der souveränen Einzelstaaten, an deren Spitze souveräne Fürsten standen – die Könige von Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg etc., und natürlich auch der Großherzog von Baden. Und so schreibt der Hardheimer Anselm Wertheimer am 1. November 1914 aus dem Feld an das „Verehrliche Bürgermeisteramt Hardheim“: „Dessen ungeachtet werde bis zum letzten Atemzug tapfer kämpfen für Fürst und Vaterland. Unser Losungswort heißt: »Sterben oder Sieg!«“ Der Kanonier Wertheimer gehörte zum 3. badischen Feldartillerie Regiment 50. Er fiel am 31. März 1918.

Und schließlich: Wie in anderen europäischen Staaten überdeckte der gemeinsame Patriotismus den wieder auflebenden Antisemitismus, der als Gegenreflex durch die weitgehende politische und kulturelle Emanzipation der Juden verstärkt wurde; auch die Manifestation des politischen Zionismus trug dazu bei. Dieser Antisemitismus schlug sich in Deutschland in nationalistischen Gruppierungen wie dem Alldeutschen Verband nieder, von dem sich eine direkte Traditionslinie zu den frühen Nationalsozialisten ziehen lässt. Der Einsatz vieler deutscher Juden im Ersten Weltkrieg überdeckte dies. „Wir waren natürlich sehr stolz darauf, endlich die Uniform tragen und das Vaterland verteidigen zu dürfen, das wir doch so liebten. Wir waren sogar bereit, für dieses zu sterben“, schrieb Willi Wertheimer. Zwei Hardheimer jüdischen Glaubens ließen ihr Leben in diesem Krieg – Wolf Adolf Israel und Anselm Wertheimer. Noch 1935 findet sich als Inschrift auf dem Grab von Julius Billigheimer der stolze Satz: „Er zog als Soldat in den Krieg.“

Dennoch zeigte sich gerade in diesem Krieg, dass die völlige Gleichstellung noch nicht erreicht war – Juden fanden sich nur in Ausnahmefällen im Offizierskorps, und bei der Verpflegung wurde keine Rücksicht auf die jüdischen Ernährungsregeln genommen.

3 Im Krieg – draußen auf dem Feld, drinnen an der Heimatfront
Das liefert uns ein Stichwort, das für das Kriegserleben der meistens Deutschen entscheidend war: Verpflegung, Versorgung. Es gibt Schätzungen, wonach in Deutschland während des Ersten Weltkriegs 700.000 Menschen an Unterernährung starben – das sind mehr Opfer, als die alliierten Flächenbombardements der deutschen Innenstädte im Zweiten Weltkrieg forderten (600.000).

Dass dies so werden würde war von vorneherein klar. Deutschland importierte schon vor 1914 ein Drittel seines gesamten Nahrungsmittelbedarfs aus dem Ausland. Durch die Blockade der Seehäfen und den Zusammenbruch des innereuropäischen Handels stiegen schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn die Nahrungsmittelpreise stark an, so dass 1915 zunächst Brot rationiert wurde, dann Milchprodukte, Fett, Fleisch, Eier, Kartoffeln und so weiter. Die Qualität der Lebensmittel sank, Brot wurde etwa mit allem möglichem gestreckt. Im Winter 1916/17, im „Steckrübenwinter“, sank die durchschnittliche Versorgung der Bevölkerung auf 1000 Kalorien pro Tag. Vergleichen Sie das mal mit der Tabelle der aktuellen Hamburger-Werbung; 1 BigMäc und 2 Cola. Das war‘s, für den ganzen Tag.

Es kam vereinzelt zu Hungerunruhen, aber die deutsche Propagandamaschinerie vermittelte Durchhalteparolen in jeder Form, deren Quintessenz war: Die Deutschen daheim bilden die Heimatfront.

Und an der wirklichen Front? Ich möchte an dieser Stelle nicht die einzelnen Heeresbewegungen nachvollziehen, nicht die Schlachten aufzählen. „Umringt von einer Welt von Feinden“ – das Deutsche Reich und Österreich- Ungarn, die Mittelmächte, standen gegen ganz Europa und seit 1917 gegen die USA.

Entscheidend für den Kriegsverlauf war, dass der Plan des früheren Generalstabschefs Graf Alfred von Schlieffen, einen Zweifrontenkrieg durch einen sehr schnellen Angriff auf Frankreich zu verhindern, den Flächenbrand erst richtig in Gang setzte: Der dafür notwendige Einmarsch in das neutrale Belgien, um die französische Verteidigungslinie gegen Elsass und Lothringen zu umgehen, führte zum Kriegseintritt Großbritanniens. Der deutsche Angriff blieb an der Marne stecken, der erhoffte schnelle Zusammenbruch Frankreichs blieb aus. Damit musste der gefürchtete

Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland gleichzeitig geführt werden, mit den bekannten Folgen.

Der Krieg war damit Weihnachten 1914 für Deutschland und die Mittelmächte verloren. Weder das Massenvernichtungsmittel Gas, durch das deutsche Heer im April 1815 erstmals eingesetzt, konnte dies ändern, noch die anderen neue Waffen: Maschinengewehre, Flugzeuge, Tanks.

Dennoch hielt die deutsche Heeresleitung an ihren völlig übertriebenen Kriegszielen fest: Vergrößerung des deutschen Territoriums durch Teile Belgiens, Schaffung einer wirtschaftlichen Einheit in Mitteleuropa mit Pufferstaaten nach Osten, Vergrößerung des Kolonialbesitzes.

Und so wurde weiter gekämpft an den Fronten. Allein aus Hardheim und seinen heutigen Ortsteilen fielen fast 200 junge Männer.

Das Leid war groß. In der Ausstellung wird etwa ein Brief gezeigt, in dem es heißt:

„Ich und der Alois Ihr Mann waren schon in Rastatt bei 3. Kompanie Regiment Nr. 40 beieinander […]. Ich glaube wir sind am 11. Oktober ins Feld gerückt nach Belgien und am ersten Tag wo wir ins Gefecht gekommen sind waren wir morgens noch beieinander der Alois man meint er hätte schon eine Ahnung gehabt, dass er die Heimat und seine liebe Frau nicht mehr sieht, er war ganz traurig, ich glaube, dass er auch schwer von daheim fort ist, und ich weiß nicht mehr den Tag genau wenn er gefallen ist, ich glaube am 24. Oktober er hat einen Kopfschuss bekommen, er war sofort tot.

Ich bin dann hingekommen und da hat mir einer gesagt, wo neben Ihm war, schau da liegt der Scherer und ist tot und hat einen Kopfschuss wir haben dann vor gemüßt und die Gefallenen sind beerdigt worden in ein Massengrab in der Nähe von Morslede und Westenrosenbuiken es sind viele dort gefallen und beerdigt worden.“

4 Das Ende naht
Mit dem Friedensschluss von Brest-Littowsk mit dem revolutionären Russland im März 1918 wird zwar der Zweifrontenkrieg beendet, aber die Entlastung kommt zu spät, die Kräfte der Mittelmächte sind längst zu schwach, und auch im Westen kommt nach der alliierten Offensive und dem Rückzug in die Siegfriedstellung die Erkenntnis, dass der Krieg verloren ist.

Im August 1918 erklärt die Oberste Heeresleitung unter Ludendorff und Hindenburg die Fortsetzung des Krieges für aussichtslos. Man versucht nun wenigstens innenpolitisch noch zu retten, was zu retten ist: Die politische Führung macht demokratische Zugeständnisse und setzt einen neuen Reichskanzler ein, die SPD wird gar an der Regierung beteiligt; zu spät, denn die Lage war unkontrollierbar geworden. Die Meuterei der Flotte, Streiks, Demonstrationen und Ausschreitungen in den Städten ließen Kaiser und Heeresleitung resignieren. Wilhelm II. ging ins Exil, alle deutschen Fürsten verzichteten auf ihre Kronen, die neuen politischen Repräsentanten mussten in Versailles die Suppe auslöffeln.

Die neue Republik startete damit von vornherein großen Belastungen. Die „Schmach von Versailles“, so das Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung, musste beseitigt werden: Durch einen neuen Krieg. Die 15 Jahre zwischen 1918 und1933, die Jahre von Weimar, waren keine Friedensjahre. Der Krieg blieb gegenwärtig, die zurückkehrenden Soldaten brachten ihn in ihren Köpfen mit, in den Medien waren der Krieg und Versailles immer präsent, in den politischen Programmen der Rechten war die Revanche festgeschrieben. Vor allem einer forderte die Revision, verlängerte die Kriegszielpolitik des Kaiserreichs in den Osten, wollte durch territorialen Zugewinn das Deutsche Reich autark machen: Adolf Hitler, selbst als Gefreiter Teilnehmer am Krieg. Nicht nur er ist das Bindeglied zwischen den zwei Weltkriegen, die uns beide zu einer Epoche zusammenschließen lassen.

Denn erst das Ende des Zweiten Weltkriegs beendete diese Epoche, den übersteigerten Nationalismus, den Glauben, mit einem neuen Krieg die Niederlage wieder auswetzen zu können. Nun war auch die Niederlage total, in allen Köpfen, Deutschland war besetzt, geteilt, und wurde im Westen „zwangs-“demokratisiert und im Osten auf die gleiche Weise sozialisiert. Mit großem Erfolg: Der entstandene gesellschaftliche Konsens war und ist bis heute hoch.

Nun sind wir am Ende der Epoche angekommen, am Ende dieser Epoche, zu der der Erste Weltkrieg Auftakt war.

Und es gibt sogar Gründe dafür, die Epoche des Zweiten Dreißigjährigen Krieges erst 1990 mit dem Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satelliten enden zu lassen.

Womöglich wird man in 50 Jahren dieses Geldstück als Epochengrenze setzen: Als Ende des nationalen Zeitalters in Europa, zwischen Napoleon und Maastricht, zwischen den europäischen Nationalkriegen und der europäischen Einigung.

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